Bewegende Schicksale aus dem Slum

Ein Bericht von German Doctors-Einsatzärztin Dr. Anke Zlotnik aus Nairobi

Dr. Anke Zlotnik führt einen Ultraschall bei einer schwangeren Frau durch

Als ich aus dem Flughafengebäude des Jomo Kenyatta International Airport trete, frage ich mich, was mich in den kommenden Wochen hier in Nairobi wohl alles erwarten wird. Meine neue zukünftige Kollegin und ich werden bereits von John, einem Mitarbeiter der German Doctors, freundlich empfangen. Während des Fluges habe ich das „Blue Book“, ein Buch der German Doctors mit Richtlinien zu den häufigsten Krankheiten in unseren Projektländern, nochmals durchblättert. Ich möchte gut auf meinen ersten Einsatz vorbereitet sein und überlege, wie viele dieser exotischen Tropenkrankheiten, die man hier nur aus den Lehrbüchern kennt, wohl auf mich zukommen werden.

Fortbildung für die lokalen Gesundheitskräfte

Nun ist es soweit, heute ist mein erster Tag als German Doctor im Baraka Health Centre. So heißt die kleine Ambulanz mitten im zweitgrößten Slum Nairobis. Bei unserer Ankunft sitzen die Patienten bereits dicht gedrängt auf den Bänken im Warteraum, manche liegen sogar auf dem Boden. Kinder spielen miteinander oder schlafen auf dem Arm der Mutter. Ich bekomme ein Zimmer zugeteilt und nach einer kurzen Vorstellungsrunde bei allen lokalen Mitarbeitern geht es los. Ich bin etwas nervös. Edna, meine kenianische Übersetzerin, beruhigt mich. Sie mache die Arbeit schon seit mehr als 10 Jahren und wir werden das schon gut zusammen hinbekommen, meint sie und zwinkert mir zu.

Viele Patienten kommen mit alltäglichen Problemen, wie Rücken- oder Kopfschmerzen, zu uns. Viele tragen schlechtes Schuhwerk und haben Schmerzen beim Gehen oder Sodbrennen vom fettigen Essen. Manchmal wird es schon etwas kniffeliger. Die unterschiedlichen Hautausschläge auf dunkler Haut sind nicht immer einfach zu erkennen. Teilweise mache ich Bilder mit meinem Smartphone und zeige sie den anderen German Doctors beim Mittagessen und wir beratschlagen uns gemeinsam wie man am besten behandeln sollte. Auch bei anderen Problemen arbeiten wir zusammen. Da ich in Deutschland als Anästhesistin arbeite, mache ich eine Kurznarkose für einen Patienten, der seit einigen Tagen einen luxierten Ellenbogen hat, sodass meine Kollegin den Arm wieder reponieren kann. Ins Krankenhaus wäre er damit wohl nicht gegangen, da er weder eine Krankenversicherung noch Geld für die Behandlung hat. Einmal mache ich sogar eine Pleurapunktion bei einem jungen Patienten, der seit Tagen starke Atemnot beim Gehen hat. Wahrscheinlich hat er Tuberkulose.

Viele Symptome werden nur nach klinischem Verdacht behandelt, da die Patienten meist kein Geld für weiterführende Diagnostik wie z. B. Röntgenbilder oder spezielle Laboruntersuchungen haben.
So ist auch der Gebrauch von Antibiotika um ein vielfaches höher als bei uns und es kommt nicht selten vor, dass Patienten wegen Bauchschmerzen unsere Ambulanz aufsuchen und bereits drei verschiedene Antibiotika eingenommen haben. Die kann man hier in jeder Apotheke problemlos kaufen. Meist wird sich dabei an die Dauer und an das genaue Medikament gar nicht mehr erinnert, was eine weiterführende Behandlung erschwert. Ein Mädchen kommt nach einer Reise zurück mit Fieber, sie hat Malaria. Ein junger Mann hat starke Halsschmerzen und geschwollene Mandeln. Ein kleiner Junge kommt mit seinem Vater, er hat aus Versehen ein Spielzeugteil verschluckt und hat nun Bauchschmerzen. Eine Patientin erzählt mir, dass sie ihre HIV-Medikamente abgesetzt habe, da
sie bereits von Gott geheilt wurde. Wir versuchen sie umzustimmen.

Im Slum

Einmal wöchentlich begleitet ein German Doctor das Team der Sozialarbeiter, um Bewohner des Mathare Valley Slum, die an chronischen Krankheiten leiden, zu besuchen. Der Weg dorthin ist ein Labyrinth, bestehend aus viele engen und unebenen Passagen. Es geht vorbei an einfachsten Wellblechhütten, unter frischgewaschener Wäsche hindurch und manchmal mit einem kleinen Sprung über Abwasserkanäle hinweg. Überall wo man hinschaut liegt Müll. Auf der fest geplanten Route besuchen wir Menschen in ihrer meist nur wenige Quadratmetern große Hütte. Wir setzen uns zu dritt auf einen kleinen Sessel und die Sozialarbeiterin erkundigt sich nach dem Befinden. Ihre Kollegin zählt währenddessen die noch vorhandenen Medikamente (meist gegen HIV oder Tuberkulose) und notiert sich alles penibel. Es ist wichtig, dass die Patienten regelmäßig ihre Medikamente einnehmen, sodass die Krankheiten keine Chance haben, auszubrechen. Ich merke schnell, dass es für viele Probleme hier einfach keine Lösung gibt. In einer Hütte liegt ein ungefähr fünfzig Jahre alter Mann, der seit Jahren bereits bettlägerig ist und von seiner Frau gepflegt wird. Wahrscheinlich leidet er unter einer fortschreitenden neuromuskulären Erkrankung. Für die Diagnose müsste er jedoch in ein Krankenhaus. Es gibt niemanden, der ihn dort hintragen kann und auch mit einem Rollstuhl könnte man den unebenen Weg aus dem Slum heraus nicht bewältigen. Und selbst wenn er es irgendwie hinbekommen würde, hätte seine Familie kein Geld, um die Diagnostik und eine eventuelle Therapie zu bezahlen. So versucht die Sozialarbeiterin mit viel Empathie der Familie Mut zuzusprechen und ihr zu zeigen, dass wir da sind – auch wenn wir hier nichts tun können. Der Mann bedankt sich, als wir wieder gehen.

Warten auf die Behandlung

Als Nächstes besuchen wir eine ältere Frau. Wegen eines jahrzehntelangen nicht behandelten Diabetes mussten ihr beide Unterschenkel abgenommen werden. Sie erzählt uns, dass ihre Kinder leider alle unten am Fluss leben. Die Sozialarbeiterin erklärt mir später, dass sich dort viele Slumbewohner aufhalten, um Drogen zu konsumieren. Ich wundere mich kaum darüber, so können viele das Elend hier wohl besser ertragen. Beim Abschied meint die alte Frau zu mir, dass ich den German Doctors ganz herzlich danken soll, da sie während der Corona-Pandemie Nahrungsmittelpakete erhalten habe. Sie winkt zum Abschied. Ich bin froh, dass unsere Tour nun beendet ist. Weitere Schicksale hätte ich heute nur noch schwer ertragen.

Dann gibt es da aber auch die vielen schönen Momente. Die Schwangere, die sich freut, das erste Mal ihr Baby im Ultraschall zu sehen. Die Patientin mit Hautausschlag, der nach Monaten endlich besser aussieht und sie nun wieder ihr Zuhause verlassen kann, ohne komisch angeschaut zu werden. Oder der Patient mit beginnender Sepsis, dem es nach antibiotischer Therapie rasch besser geht. Viele bedanken sich auch einfach für einen guten Ratschlag – sie sind froh, dass sichnichts Schlimmeres hinter ihren Beschwerden verbirgt. Auch unsere wöchentlichen Fortbildungen sind ein kleines Highlight im Arbeitsalltag. Es ist toll zu sehen, wie gebannt die Mitarbeiter zuhören und wie motiviert alle z. B. beim Reanimationstraining mitmachen. Auch wenn dies nur ein winziges Teil in einem riesigen Puzzle ist, so bleibt die Hoffnung, etwas Sinnvolles beigetragen zu haben.

Reanimationstraining

Am Ende meines Einsatzes bin ich Dankbar für alle medizinischen und menschlichen Erfahrungen, die ich in Nairobi machen durfte und die vielen netten Menschen, die ich kennengelernt habe. Ich möchte auf alle Fälle wieder als German Doctor arbeiten!