Trotz Wind und Wetter

Ein Bericht von German Doctors-Einsatzärztin Dr. med. Christine Nitschke aus Luzon

Dr. med. Christine Nitschke führt einen Ultraschall durch

Ende September 2022 brach ich zu meinen sechswöchigen, ehrenamtlichen Projekteinsatz als Ärztin auf den Philippinen mit German Doctors e.V. auf. Meine Klinik in Deutschland hatte mich dafür mit Sonderurlaub unentgeltlich freigestellt und alle behördlichen Formalitäten waren bereits sieben Monate vorher veranlasst worden. Trotzdem ließ die lokale Arbeitsgenehmigung für die Philippinen bis zuletzt auf sich warten – ich erhielt sie erst, als ich bereits in Manila gelandet war, also genau rechtzeitig.
Für meinen Projekteinsatz mit der Rolling Clinic im Norden der philippinischen Haupinsel Luzon musste ich in den Norden des Landes weiterreisen. Dafür hatte ich einen Inlandsflug gebucht, der zunächst um einen Tag verschoben und dann kurzfristig aufgrund des nahenden Supertaifuns „Karding“ komplett abgesagt wurde. Ganz spontan nahm ich daher den 12-stündigen Nachtbus und wurde anschließend vom Fahrer des Projektes in der Stadt Tuguegarao abgeholt und weitere zwei Stunden zum Doctors‘ House und lokalen Office des Projektes in die Kleinstadt Conner in der Provinz Apayao gefahren. Dort wurde ich dem lokalen Team vorgestellt und bezog mein Zimmer. Während meines Zeitraumes war ich wegen eines kurzfristigen Personalausfalls die einzige Projektärztin und auch die lokalen Strukturen waren aufgrund von personellen und örtlichen Veränderungen mit einer neuen Basis in Abulug im permanenten Umbruch, sodass die Terminierungen der Rolling Clinic teilweise sehr spontan an personelle und lokale Veränderungen angepasst wurden.

Unterwegs mit der Rolling Clinic

Meine Aufgabe im Projekt war primär der tägliche Einsatz mit der Rolling Clinic: Mit einem Pick-Up-Fahrzeug fuhr ich mit einem lokalen Team aus Fahrer, Übersetzer, Erstaufnahme-Assistent und Apothekenhelfer jeden Tag in ein anderes abgelegenes Dorf der Region zur ärztlichen Sprechstunde – und in einigen entlegenen Gegenden übernachteten wir als Team auch wochenweise, bevor wir nach Conner zurückkehrten. In den Dörfern begegneten uns sehr dankbare Patienten, die kaum Zugang zu medizinsicher Versorgung – oder finanzielle Ressourcen für Reisen in städtische Regionen – hatten und daher zu den monatlich stattfindenden Rolling Clinic Terminen der German Doctors nach teilweise stundenlangenden Fußmärschen erschienen, um eine kostenlose Untersuchung mit Aushändigung benötigter Dauer- oder Akutmedikation zu erhalten.

Das Alter der Patienten reichte dabei vom Säugling bis hin zum über 90-jährigen Dorfbewohner, und das Spektrum der Krankheitsbilder war sehr breit gefächert: Hypertonie und Diabetes, Epilepsien, Schizophrenien, lokale Hautinfektionen oder -wunden, akute Atemwegsinfekten, chronischer Husten, diverse infektiöse Tropenerkrankungen, Durchfälle, Wurmerkrankungen, Augenerkrankungen, diverse Nierenerkrankungen, Hals-Nasen-Ohren Beschwerden, Schwangerschaftsvorsorge, Dehydration, Herzerkrankungen, und Tumore bis hin zu vielfach muskuloskelettalen Beschwerden bei harter Farm-Arbeit in den Reisfeldern. Vor allem bei Patienten mit lang andauerndem Husten musste zwischen einer möglichen obstruktiven Atemwegserkrankung bei permanenter Belastung durch „indoor air pollution“ durch offene Feuerstellen in den simplen Behausungen und der wichtigen Differentialdiagnose Tuberkulose unterschieden werden, bei deren Verdacht die betroffenen Patienten eine Sputumprobe zur Diagnostik abgeben mussten, um gegebenenfalls ins nationale Tuberkuloseprogramm eingeschlossen werden zu können.

Bei der Behandlung

Mit psychiatrischen Patienten waren die Angehörigen oft so überfordert, dass auch ein angeleinter, verwahrloster Mann mit einer Fußkordel und daran befestigten, langen Leine zum Einfangen oder Anbinden kein ungewöhnliches Bild auf der Dorfstraße darstellte. Auch kam es vor, dass Patienten bei unserer Rolling Clinic nach langen Erkrankungszeiträumen erstmalig vorstellig wurden: So stellten sich unter anderem ein sechsjähriger taubstummer Junge, ein 11-jähriges Mädchen und eine 40-jährige Patientin bei bereits seit Geburt bestehender Taubheit erstmalig in ihren Leben ärztlich zur Abklärung der Taubheit vor. Eine 19-jährige Patienten erlitt seit einer Meningitis im Säuglingsalter zweimal täglich epileptische Anfälle, ohne jemals vorstellig zu werden oder Medikation einzunehmen. Auch stellten sich erstmals eine 40-jährige Patientin mit erblichen, polyzystischen Nierenerkrankungen in unserer Rolling Clinic Sprechstunde vor, die wir zur weiteren Anbindung an die lokale Klinik vermittelten und das sonographische Screening ebenfalls für ihre Angehörigen nahelegten. Einige Patienten präsentierten zudem erstmalig ihre bereits seit Jahren bestehenden, fortgeschrittenen Tumorleiden wie Lymphdrüsenkrebs, fortgeschrittene Hauttumore, Uterustumore, Prostatatumore oder Brustkrebs, scheuten aber die weitere Behandlung in Zentren aus Angst vor Kosten und mangels Transportoptionen.

 

Auch Physiotherapie stand auf dem Programm

Selbst die Frau unseres lokalen Mitarbeiters hatte spontan eine unkomplizierte Hausgeburt, da sie niemand in das nahe gelegene Krankenhaus zur Entbindung fahren konnte. Für viele Patienten konnten wir mit den verfügbaren Mitteln unserer eigenen Rolling Clinic Apotheke eine lokal durchführbare medizinische Therapie anbieten, aber vor allem bei weiterer notwendiger Diagnostik waren die Möglichkeiten oft limitiert. Unsere eigene Diagnostik war auf Vitalparameter, Pulsoxymeter, Blutzuckermessungen, Urinuntersuchungen und Ultraschall begrenzt, sodass wir im Zweifelsfall den Nutzen einer weiteren Laboruntersuchung durch eine weiter entfernte öffentliche Klinik im Verhältnis zum Aufwand für den Patienten abwägen mussten. Nur in komplexen Fällen war daher eine Überweisung an die regionale Klinik indiziert. Erwähnenswert war auch der von den Dörfern eigenständig organisierte Abtransport der betroffenen Patienten, aber vor allem der von Notfallpatienten, die in Deutschland im Krankenwagen mit Blaulicht eingeliefert worden wären: sei es im Tricycle oder als Mitfahrer auf dem Motorrad über Schotterstraßen oder sogar mit der „Bamboolance“ (einer Hängematte an einem tragbaren Bambusrohr) anstelle einer Trage.

Während der sechs Wochen im Projekteinsatz mit der Rolling Clinic behandelten wir rund 500 Patienten. Als Dank für die kostenlose medizinische Hilfe wurde unser Team nach Ende jedes Rolling Clinic Tages durch die lokalen Dörfer mit köstlichen regionalen Spezialitäten bekocht.
Über den Einsatz in der Rolling Clinic hinaus unterstützte ich zudem die nationalen Koordinatoren bei der Ausbildung neu eingestellten Personals und brachte dem Personal medizinische Termini sowie Grundlagen der Anamnese, Untersuchung und ersten Hilfe bei. Außerdem diskutierten wir intensiv mit der nationalen medizinischen Direktorin die Möglichkeiten, wie der Status quo des Projektes zukünftig weiterhin möglichst nachhaltig verbessert werden könnte. Zudem versuchten wir während der Rolling Clinic weiteres medizinisches Basiswissen an die lokalen Health Worker der Dörfer zu vermitteln, die bereits eine medizinische Grundausbildung erhalten hatten und für ihr Dorf als Erstkontakt – auch in Abwesenheit der ärztlichen Rolling Clinic Termine – langfristig eine medizinische Minimalversorgung zusätzlich zur lokalen Hebamme darstellten. Durch die ebenfalls während meiner Zeit erfolgte Standortverlegung nach Abulug werden zukünftig teilweise auch neue Dörfer durch die Rolling Clinic angefahren, deren Ausbildungsprogramm der lokalen Health Worker parallel erfolgt.
Insgesamt wurde ich auf den Philippinen sehr gastfreundlich empfangen und die Philippinos zeigten sich als sehr fröhliches Volk. Auch das nächtliche Erdbeben der Richterskala 6,3 mit seinen zahlreichen Nachbeben und die sechs Tropenstürme (Karding, Maymay, Neneng, Obet, Paeng und Queenie – davon zwei als Taifune eingestuft) mit Sturm, starken Regenfällen, Überschwemmungen, reißenden Flüssen, vollen Staudämmen und Erdrutschen, die ich während meines Aufenthaltes miterlebte – und auf die stets automatische Warn-SMS als Notfallbenachrichtigung zur Evakuierungsbereitschaft folgten -, gehörten mitsamt unpassierbaren Straßen und Brücken zum Alltag und waren für die Menschen normal.

Überflutungen durch einen Tropensturm

In Folge eines Tropensturms mussten wir nach Starkregen mit heftigen Überschwemmungen sogar eine Rolling Clinic Woche vorzeitig beenden, damit die Patienten ihre Häuser nicht verlassen mussten, um zu uns zu kommen, und unser Team in die höher gelegenen Regionen nach Conner zurückfahren konnten, bevor die Strecke durch Erdrutsche und Überflutungen möglicherweise unbefahrbar werden würde. Außerdem kamen an den auf Unwetter folgenden Tagen weniger Patienten als sonst, da sie mit Aufräumarbeiten nach Erdrutschen beschäftigt waren, was – ebenso wie die Erntezeit für die Farmer – Vorrang vor dem Arztbesuch hatte. All dies konnte das fröhliche, unbeschwerte Lachen meiner philippinischen Kollegen jedoch ebenso wenig trüben, wie die täglichen Schöpfduschen aus dem Eimer – vorausgesetzt es gab Wassernachschub -, die handtellergroßen Spinnen, Geckos, Frösche, Mäuse, Ameisen oder Riesenkakerlaken in den Häusern, oder die streunenden Tiere auf den Straßen. Auch „no light, no water, no signal“ war keine Seltenheit. Bei plötzlichen Stromausfällen wurden einfach schnell Kerzen gekauft, bevor im Kerzenschein zu Abend gegessen werden konnte. Die Philippinos sind außerdem sehr christlich: vor jeder Rolling Clinic Sprechstunde, vor jeder Autofahrt und vor jeder Mahlzeit wurde gebetet – und eindrücklich war in einem der Dörfer auch der Trauerzug eines jungen, tödlich verunglückten Motorradfahrers, bei dem eilig noch die kirchliche Trauung des bereits Verstorbenen mit dessen schwangerer Verlobten vollzogen wurde, bevor direkt anschließend die Beerdigung stattfand.

Wir danken zurück 🙂

In den fröhlichen Momenten feiern die Philippinos dafür gerne, so auch wochenlange Stadtfeste mit täglich lauter Musik bis in die Nachtstunden, spontane Karaoke-Abende, Obstfeste, und eine monatelange Einstimmung auf die noch kommende Weihnachtszeit. Zusammenfassend ist die Lebensfreude der Philippinos und vor allem ihre Anpassungsfähigkeit an alle Lebensumstände sehr beeindruckend, auch wenn die Bedingungen noch so simpel sind und durch harte Arbeit, wiederkehrende Naturkatastrophen und vielfach auch Krankheit geprägt werden. Das Engagement von German Doctors zielt an dieser Stelle vor allem auf eine nachhaltige Verbesserung der medizinischen Grundversorgung derjenigen Patienten ab, die in besonders abgelegenen Regionen wohnen und sich keine regelmäßige ärztliche Vorstellung leisten können. Ich bin dankbar für die vielen kulturellen und medizinischen Eindrücke, die ich aus dem Projekteinsatz in Luzon mitnehmen darf.