Nach dem Chaos in der Metropole Kolkatas nun in den ländlichen Sundarbans

Ein Bericht von German Doctors-Einsatzarzt Dr. Hans-Georg Kubitza aus den Sundarbans

Nach elf Stunden Flug komme ich müde morgens um 2 Uhr auf dem Airport Kolkata an. Ich bin froh, am Ausgang den freundlichen Fahrer vom Projektpartner des German Doctors e.V., der indischen Nichtregierungsorganisation ASHA zu sehen, denn wir haben noch die letzten 50 Kilometer bis zu unserem Quartier in Deuli vor uns.

2019 und 2020 war ich schwerpunktmäßig in den Slums von Kolkata und Howrah unterwegs. Nun werde ich im ländlichen Gebiet der Sundarbans ehrenamtlich tätig sein, welches sich östlich von Kolkata befindet und sich bis an die Grenze nach Bangladesch erstreckt. In dieser weitläufigen und schwer zugänglichen Region kümmern sich die German Doctors und ASHA seit Herbst 2022 um die medizinische Versorgung der ländlichen Bevölkerung in 47 Dörfern.

Zwar gibt es hier einige staatliche Community Health Center und in Basirhat auch ein State Hospital, das mit einem einfachen deutschen Kreiskrankenhaus vergleichbar ist, aber aufgrund der großen Entfernungen und kaum vorhandener öffentlicher Verkehrsmittel sind diese Einrichtungen für viele Patienten und Patientinnen nur schwer erreichbar.

In diesem großen Einsatzgebiet sind auch unsere Anfahrten zu den Ambulanzorten bis zu zwei Stunden lang. Meistens sind wir mit einem robusten SUV unterwegs, aber ein Ambulanzplatz ist aber nur mit einer Fähre und einem Tuktuk zu erreichen. Zum Team gehören neben meiner Kollegin und mir zwei engagierte und lebhafte Übersetzerinnen und eine Krankenschwester, welche die Ausgabe der mitgeführten Medikamente organisiert.

Jeweils vor Ort unterstützen uns Community Health Volunteers, indem sie die Patienten und Patientinnen registrieren, den Blutdruck messen und im Wartebereich mit Schaubildern zum Beispiel über Hygienemaßnahmen und den Gebrauch von sauberem Wasser aufklären. In den Dörfern nutzen wir Räume in Schulen, Gemeindeclubs, Taifun- und Flut-Schutzräumen und in einer Moschee.

Viele Patientinnen und Patienten haben einen Diabetes mellitus und eine Hypertonie. Bei den schlanken und meistens körperlich arbeitenden Menschen sind das keine „Wohlstandskrankheiten“, sondern genetisch bedingt. Außerdem klagen Patienten und Patientinnen jenseits des 40. Lebensjahres gehäuft über Nackenschmerzen, Schmerzen im Lendenwirbelsäulen-Bereich und Knieschmerzen. Neben Medikamenten ist bei diesen Menschen Beratung über richtige Ernährung und die Anleitung zu Dehn- und Streckübungen erforderlich. Bei 70 % der Frauen in Westbengalen besteht eine Anämie. Meistens reicht da die Blickdiagnostik (blasse Zunge, blasse Schleimhäute), um die Diagnose zu stellen. Wenn die technischen Möglichkeiten begrenzt sind, lernt man wieder, sich auf seine Sinne – Sehen, Tasten, Hören – zu verlassen!

Depressive Patienten und Patientinnen – zumeist Frauen – erlebe ich ebenfalls. Eine Depression wird in diesem Kulturkreis natürlich nicht offen angesprochen. Als Symptome werden Ganzkörperschmerz, Schlafstörungen, Traurigkeit, morgendliches Unwohlsein angegeben. Die tägliche Hausarbeit wird auch kaum noch geschafft. Nur eine Patientin lässt sich auf ein Gespräch über den Grund ihrer Traurigkeit ein: Ihr Sohn ist vor einem Jahr bei einem Verkehrsunfall tödlich verunglückt. Manchmal bringen schon solche Gespräche etwas Entlastung. Ein Antidepressivum haben wir im Bedarfsfall auch zur Verfügung.

Skabies und Hautpilzerkrankungen sind ein häufiges Problem. Auch Atemwegsinfekte bei Kindern, einige auch mit einer Pneumonie, haben wir behandelt.

Der Gegensatz von Stadt und Land

Im Gegensatz zu meinen Einsätzen in Kolkata und Howrah habe ich hier keine Patientinnen und Patienten mit einer frischen Tuberkulose oder schweren Darminfekten entdeckt. Die Ansteckungsgefahr ist in den Großstadtslums, wo die Menschen sehr dicht und unter schlimmsten hygienischen Verhältnissen leben, viel größer als in den weitläufigen Dörfern, in denen die Menschen in eigenen Lehmhütten oder Ziegelhäusern leben. Auch der Zugang zu sauberem Wasser bessert sich auf den Dörfern allmählich.

Wir haben auf unseren Fahrten viele Baustellen gesehen, an denen neue Wasserleitungen verlegt wurden. Wie wir bei einigen Hausbesuchen sehen konnten, bauen die Menschen Reis und in den eigenen Gärten Kartoffeln und anderes Gemüse an. Sie sind also zu einem Teil Selbstversorger. Unterernährte Kinder haben wir trotzdem vereinzelt behandelt.

Neben der Landwirtschaft arbeiten die Männer als Tagelöhner auf Baustellen und im schlimmsten Fall pressen sie mit der Hand in den Brick Fields Lehm in Ziegelformen, die dann gebrannt werden. Für Frauen gibt es auf dem Lande kaum Arbeit außerhalb des eigenen Haushaltes.

Schulungen für nachhaltige Gesundheitsversorgung

Einen Tag pro Woche haben wir Community Health Volunteers unterrichtet. Das sind junge Frauen, die in ihren Dörfern einfache Aufgaben der Gesundheitsbetreuung übernehmen, zum Beispiel bei Kranken Kontrollbesuche machen, Blutdruck und Blutzucker messen, aber auch die Patienten zum Arzt begleiten.Wir müssen bei diesem relativ neuen Projekt noch viele Grundlagen vermitteln.

Bei meinen Schulungen über Atemwegsinfekte bei Kindern und über Mess- und Testmethoden (Blutdruck, Puls, Blutzucker, Urin-Tests) sowie kleine Wundversorgung war ich begeistert von der Aufmerksamkeit und der Wissbegierde der Frauen! Mit den Community Health Volunteers wird die Gesundheitsversorgung in den Dörfern nachhaltig verbessert und gleichzeitig können die jungen Frauen mit ihren Fähigkeiten und ihrem Wissen ihr eigenes Ansehen in ihrem Dorf deutlich steigern und einige Rupien dazuverdienen.

Am Ende geht es dann auch wieder nachts zurück zum Airport. Ein letztes kleines Abenteuer mit Lastwagenkolonnen, die uns mit aufgeblendetem Licht entgegenkommen und unbeleuchtete Lastenrikschas, die plötzlich vor uns aus dem Dunkel auftauchen.

Ein Mini-Team mit jeweils nur zwei German Doctors war für mich auch eine neue Erfahrung. Herzlichen Dank an meine Kolleginnen Bea und Jasmin für die harmonische Zusammenarbeit und die gemeinsamen Erfahrungen! Mein Dank auch an das gesamte, tolle ASHA-Team!