Die Welt ist verdammt ungerecht

Ein Bericht von Einsatzärztin Dr. Silvia Bohne aus Chittagong

Die allgegenwärtigen CNGs in den Straßen von Chittagong

Nach Ankunft in Chittagong und Statusmeldung an die Heimat gab es Essen und einen Rundgang durch die Stadt. In Bangladesch, einem muslimischen Land, ist Sonntag ein ganz normaler Arbeitstag. Dementsprechend geschäftig ging es auf den Straßen zu. Es herrscht Linksverkehr, meinem Eindrucks nach fährt aber eher jeder wie er will und das Hupen der LKWs und CNGs und das Klingeln der Rikschas gehört zur allgemeinen, lauten Geräuschkulisse. In den Straßen sieht man aneinandergereiht kleine Läden und Werkstätten, wo man den Arbeitern direkt zusehen kann. Teils sind sie in einem Alter, in dem sie lieber in der Schule sein sollten. Dazwischen steht immer mal eine Kuh, ganz ruhig in dem Gedränge von Menschen und Vehikeln. Man kann die dicht gedrängten Eindrücke gar nicht so schnell aufnehmen, zumal man die Hälfte seiner Aufmerksamkeit darauf richten muss, nicht überfahren zu werden. Davon abgesehen kann man, entgegen den eindringlichen Sicherheitsbelehrungen, offensichtlich rausgehen, ohne Opfer eines Verbrechens zu werden.

Vor der ärztlichen Untersuchung werden die Patienten gewogen, die Vitalparameter werden gemessen und die Werte werden in die Patientenkarte eingetragen.

Die ersten Arbeitstage waren erwartungsgemäß fordernd: Durch den Aufbau der Patientenkarte durchsteigen, die Handschriften der Vorgänger entziffern, den Patienten untersuchen, sich überlegen was er hat und was man therapeutisch macht, alles praktisch simultan. Das erfordert viel Aufmerksamkeit. Liton, mein Übersetzer, der schon seit 18 Jahren hier arbeitet, gibt einem jedoch viele Tipps. Viele chronisch kranke Patienten kommen zur Verlaufskontrolle, viele Kinder, aber auch Erwachsene, mit Erkältungskrankheiten, Hauterkrankungen und viele Patienten mit muskulo-skelettalen Schmerzen, die angesichts der schweren körperlichen Arbeit nicht verwunderlich sind. Auch, dass so viele mit Schwächegefühl kommen, wundert einen nicht, wenn man weiß, dass Ramadan ist und die Leute bis zum Sonnenuntergang nichts essen und vor allem nichts trinken – bei 36°C Außentemperatur. 90% der Menschen in Bangladesch sind Muslime. Die Menschen nehmen ihre Religion sehr ernst. Das Fasten zu brechen, sollte man daher nur in Ausnahmefällen empfehlen. Zumindest gibt es im Islam mit Fidya, Kaffara und der Zakat-ul-Fitr verschiedene Möglichkeiten um Kompensationen zu leisten, wenn man im Ramadan nicht fasten kann. Denoch habe ich als weiße, unverschleierte, christliche Frau ausschließlich Respekt und nicht ein einziges Mal eine abfällige Reaktion erlebt, wenn ich einem Patienten dazu angeraten habe, das Fasten aus gesundheitlichen Gründen zu unterbrechen.

Der Sprechstundenalltag

Warteschlange vor dem CBC-1

Montag war ein typischer Sprechstundentag: Ich habe zusammen mit Anna, der Krankenschwester, einen gebrochenen Fuß gegipst. Ein Kind wiedergesehen, das ich mit Krampfanfällen bei hohem Fieber ins Krankenhaus geschickt hatte und dem es viel besser ging, eine echte Epilepsie konnten sie glücklicherweise ausschließen. Eine Patientin mit einem sonographischen Unterbauchtumor habe ich ins Krankenhaus überwiesen. Ein Fall ging mir besonders nahe: eine  junge Frau mit geistiger Behinderung als Folge einer angeborenen Hypothyreose (Schilddrüsenunterfunktion) mit ausgeprägtem Kopflausbefall. Angeborene Hypothyreose wird in Deutschland per Screening üblicherweise direkt nach der Geburt diagnostiziert und sofort behandelt. Die Kinder sind dann ganz normal. Es kommen viele Patienten mit chronisch obstruktiver Lungenerkrankung, hohem Blutdruck oder Diabetes, die einfach ihre Medikamente abholen, treu und brav, alle vier Wochen. Das mag unspektakulär sein, ist aber eigentlich ein gutes Zeichen dafür, dass das Versorgungskonzept funktioniert. Der ein oder andere mag das Rezeptieren und Verteilen von Medikamenten als profan empfinden. Als ich zwischenzeitlich selber krank war, war ich froh, Medikamente nehmen zu können und dachte mir, es macht sehr wohl einen Unterschied, ob man welche zur Verfügung hat oder nicht.

Die Kinder bestaunen meine gerade gemachten Fotos auf dem Smartphone

In den Einsätzen in den community based centers 1 und 2 haben mein Kollege und ich uns angewöhnt, in der Mittagspause spazieren zu gehen. Sofort wird man von einer neugierigen, nach und nach größer werdenden Kinderhorde verfolgt. Die Kinder wachsen in den Slums mit vielen Freiheiten auf: Es gibt immer eine Menge Spielkameraden, Verkehr gibt es in den engen Gassen zwischen den Wellblechhütten nicht. Und so springen und klettern sie, unbeachtet von Erwachsenen, überall herum. Oft riefen sie mit erwartungsvollen Gesichtern: „Dance! Dance!“ oder „Photo! Photo!“. Ich habe dann meist ein paar Faxen gemacht und ihnen die frisch gemachten Fotos auf dem Smartphone-Display gezeigt. Das fröhliche Lachen der Kinder, trotz der einfachen Verhältnisse in denen sie leben, empfinde ich irgendwie immer als sehr tröstlich, auch wenn das Lachen die Armut nicht aufheben kann.

Ausflug nach Srimongol und Abschied

Teeplantage in Srimongol.

In Woche fünf fiel das mehrtägige Fest des Fastenbrechens zum Ende des Ramadans, die höchsten muslimischen Feiertage. Diese freien Tage nutzten meine Kollegin und ich für einen Ausflug nach Srimongol. Chittagong ist gefühlt doppelt so hektisch, dreimal so chaotisch und viermal so laut wie Berlin. Da tut es gut, mal rauszukommen. Srimongol ist das größte Teeanbaugebiet des Landes mit hügeligen grünen Teeplantagen, einem Urwald, durch den sich Gibbons schwingen, den unendlich erscheinenden Wasserflächen der Wetlands und noch vielem mehr. Russel, unser Fremdenführer, erwähnte beim Wandern, er habe für einen Journalisten im Rohingya-Flüchtlingslager als Übersetzer gearbeitet. Eine gute Erklärung, warum die Bevölkerung von Myanmar die Rohingya so hasst, konnte auch er mir nicht geben. Er bezeichnete es als Genozid. Man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen: Bangladesch beherbergt aktuell das größte Flüchtlingslager der Welt mit rund 1 Million Menschen. Ein Land mit der fast fünffachen Bevölkerungsdichte der Bundesrepublik und einem monatlichen Durchschnittseinkommen von 134 Dollar pro Kopf.

Mutter mit Kindern am CBC-2

Auf der siebenstündigen Rückfahrt von Srimongol nach Chittagong saßen neben uns im Zugabteil zwei junge Studenten, die total begeistert waren, zwei Europäer vor der Nase zu haben und sich kommunikativ auf uns stürzten. Sie fragten uns über alles Mögliche aus: Angela Merkel, Fußball, das Bildungssystem, den westlichen Bekleidungsstil und den Klimawandel, berichteten uns umgekehrt aber ebenfalls viel. Der Klimawandel ist in Bangladesch ein großes Thema. Das Land ist ja auch besonders davon betroffen: Zyklone, Tornados und Überschwemmungen nehmen von Jahr zu Jahr zu. Das überschwemmte Land wird durch das Meerwasser versalzen und ist dann nicht mehr landwirtschaftlich nutzbar.

In meiner letzten Woche habe ich in der Sprechstunde gearbeitet und zusätzlich eine Weiterbildung für die einheimischen Mitarbeiter gehalten, die gleichzeitig meine Abschiedsfeier war. Was bleibt von so einem Aufenthalt? Für mich persönlich: Das Erleben, dass die Welt verdammt ungerecht ist und die Hoffnung, innerhalb der Ungerechtigkeit wenigstens ein paar Menschen geholfen zu haben.