Ein Stempel, ein Versprechen
Ein Bericht von Einsatzarzt Dr. Hans-Georg Kubitza aus Kalkutta
Ich bin zum ersten Mal in einem Projekt der German Doctors unterwegs. Daher empfinde ich Vorfreude, aber auch Respekt vor der neuen Aufgabe, auf die ich mich zwar vorbereitet habe, die mir aber trotzdem unbekannt ist. Bei meiner Ankunft in unserer „Ärzte-WG“ im Haus von Howrah South Point treffe ich auf erfahrene Kollegen, die mich freundlich aufnehmen. Orthopäde Rainer war schon mehrmals in Kalkutta, aber auch schon in Bangladesch und anderen Projekten der German Doctors, Internist Rolf kennt neben Kalkutta die Projekte auf den Philippinen und war mit dem Deutschen Roten Kreuz vor 2 Jahren bei einem Ebola-Einsatz in Westafrika, Kinderärztin Nathalie arbeitet schon zum 8. Mal während ihres Jahresurlaubs in Kalkutta. Den Langzeitarzt Tobias Vogt lerne ich beim Frühstück am ersten Arbeitstag kennen, er ist seit 17 Jahren in Kalkutta. Tobias ist ein ruhiger Typ, gibt aber in fachlichen Fragen gern und detailliert Auskunft.
Meine Arbeit beginnt in der Foreshore Road Ambulanz am Rande eines Slums in der Nähe des Hoogli Flusses. Unser Team besteht aus 3 Ärzten und einem Dutzend Indischer Mitarbeiter (Übersetzerinnen, Verbandsschwester, Impfschwestern, Tuberkuloseschwester, Pharmacie und Anmeldung). Meine Übersetzerin Nassima, die mich nun an jedem Arbeitstag begleiten wird, kann nicht nur perfekt vom Bengali oder Hindi ins Englische übersetzen, sie kann aufgrund ihrer langen Erfahrung auch in vielen organisatorischen Dingen helfen. Zum Beispiel für welche Untersuchung der Patient in welches Labor gehen muss oder welches staatliche Krankenhaus für ihn zuständig ist.
Unser „Wartezimmer“ ist ein großer Hof, hier stehen die Patienten in 3 Reihen: Mütter mit kranken Kindern, Frauen, Männer und manchmal auch eine kurze 4. Reihe mit Schwangeren, die zur Vorsorge kommen. Alle erhalten einen Stempel auf den Unterarm, der zugleich unser Versprechen ist, dass sie an diesem Tag auch behandelt werden. Trotzdem müssen viele Patienten geduldig bis zum Nachmittag bei Temperaturen bis 36 Grad im Schatten warten, bis wir sie in unserer Sprechbox sehen. Der Schwerpunkt ärztlicher Diagnostik liegt hier auf dem Ursprünglichen: Schauen, Hören, Tasten.
Mit geringen Mitteln viel erreichen
Unsere Ausrüstung ist überschaubar: Blutdruckmeßgerät, Stethoskop, Ohrenspiegel, Maßband, Blutzuckerschnelltestgerät und Urinsticks. Natürlich haben wir die Möglichkeit, die Patienten in nahegelegene Diagnostikzentren zum Labor, EKG oder Ultraschall zu schicken. Bei begrenzten finanziellen Mitteln muss aber immer genau überlegt werden, ob die Untersuchungen dem Patienten wirklich nützen können. Die klassischen Tropenkrankheiten wie Malaria oder Dengue Fieber treten im Frühjahr sehr selten auf, trotzdem muss man bei Patienten mit unklarem Fieber auch jetzt immer daran denken.
Häufig sehen wir Patienten mit Atemwegsinfekten, Asthma und COPD – kein Wunder bei der Luftverschmutzung in und um Kalkutta. Da die Tuberkulose eine häufige Erkrankung insbesondere unter den desolaten und beengten Verhältnissen der städtischen Slums ist, wird bei jedem Patienten, der länger als 14 Tage hustet, eine Röntgenuntersuchung des Thorax und eine Sputumuntersuchung auf Tuberkelbakterien durchgeführt. Bereits am ersten Tag sehe ich 2 Patienten mit bisher unbekannter Tuberkulose. Das sind mehr als ich in meiner Praxis in Dortmund in den letzten Jahren gesehen habe.
Die hygienische Situation ist für viele unserer Patienten katastrophal. In den Slums müssen sich manchmal bis zu 100 Familien eine Toilette teilen, Körperpflege ist nur an öffentlichen Wasserpumpen auf der Straße möglich. Daraus folgen insbesondere bei Kindern häufige Durchfallerkrankungen. Ich sehe ein 4 Monate altes Mädchen, die Mutter erzählt, dass das Kind seit 3 Tagen wässerigen Stuhl hat. Es reagiert kaum noch, die Augen sind eingefallen und die abgehobene Bauchhautfalte glättet sich nur sehr, sehr langsam. Es ist also völlig dehydriert. Das Kind wird sofort mit unserem Ambulanzfahrzeug in das staatliche Krankenhaus ganz in unserer Nähe gebracht.
Bein gebrochen für zwei Wochen
Wie hilflos und leidensfähig unsere Patienten oft sind, erlebe ich in unserer ländlichen Ambulanz in Chengail. Ein Mann wird auf einer Lastenfahrradrikshaw zu uns gebracht. Er hat sich vor 2 Wochen eine Schenkelhalsfraktur zugezogen. In einem kleinen ländlichen Krankenhaus wurde ein Röntgenbild gemacht und der Patient zur Operation an ein entfernt gelegenes Krankenhaus verwiesen. Den Transport dorthin konnte er aber weder organisieren noch bezahlen. Auch hier können wir mit unserem Ambulanzfahrzeug helfen.
Bei unterernährten Kindern und Kindern mit Infektionen bieten wir den Müttern an, mit ihren Kindern auf die Kinderstation von Howrah South Point zu kommen. Oft lehnen die Mütter das ab, weil sie noch mehr Kinder haben, die sie betreuen müssen, weil sie eine Arbeit haben, die sie dann verlieren würden oder weil einfach der Ehemann der stationären Behandlung nicht zustimmt. Ich erlebe diese Situation bei einem 2 Monate alten Mädchen mit einer Lungenentzündung. Obwohl ich der Mutter erkläre, dass ihr Kind sterben könnte, verweigert sie die stationäre Aufnahme. Ich verschreibe ein Antibiotikum und Zink und lasse die Mutter mit einem sehr unguten Gefühl gehen.
Umso mehr freue ich mich, als mein Kollege Rolf eine Woche später berichtet, dass er das Kind noch einmal gesehen hat und es ihm viel bessergeht. Anfangs wundere ich mich über die vielen Patienten mit ausgedehnten Hauterkrankungen, als ich die Lebensbedingungen der Patienten näher kennenlerne, verstehe ich das Problem: sie können sich beim Waschen in aller Öffentlichkeit nicht vollständig entkleiden und lassen die Kleidung danach am Körper trocknen. Das sind beste Wachstumschancen für Hautpilz. Da wir die Situation der Menschen nicht ändern können, ist die medikamentöse Behandlung der Tinea eine Sisyphus-Arbeit. Ich erlebe auch viele Patienten mit Diabetes mellitus. Das ist hier keine Wohlstandskrankheit, sondern bei vielen Indern vorwiegend genetisch bedingt. Da sind nicht nur Medikamente, sondern auch intensive Beratung in der Sprechstunde und einmal monatlich samstags ganztägig in unserem Diabetes Camp gefragt. Oft kommen auch Diabetiker zu uns, die bisher bei einem privaten Arzt in Behandlung waren, aber die Konsultationen und die Medikamente langfristig nicht bezahlen können. Hier setzt dann unsere spezielle Beratung an, denn seit 2 Jahren werden Diabetiker auch kostenfrei in den staatlichen Krankenhäusern behandelt. Die Menschen wissen aber nicht davon, weil die Indischen Behörden diese Möglichkeit kaum bekanntmachen. Wir veranlassen dann die notwendigen Laboruntersuchungen und schicken sie damit zur Krankenhausambulanz.
Gute Medizin, schwer erreichbar
Auch über andere Angebote des staatlichen Gesundheitswesens für mittellose Patienten klären wir auf, so zum Beispiel über die kostenlose Entbindung im Krankenhaus, die Handicapped Card für Schwerstbehinderte und staatliche Impfprogramme. Die Impfprogramme werden oft nicht konsequent durchgeführt, daher wird in unseren Ambulanzen bei jedem Kind, das uns vorgestellt wird, der Impfstatus überprüft und notwendige Impfungen sofort durchgeführt.
Es ist für mich manchmal schwer zu ertragen, zu wissen, dass in Kalkutta Medizin auf höchstem Niveau angeboten wird, allerdings nur in privaten Kliniken und auch kostenpflichtig in den Universitätskliniken. Damit sind diese Leistungen in der Regel für unsere Patienten finanziell völlig unerschwinglich. Es ist nicht unsere Aufgabe, die sozialen Verhältnisse in Kalkutta zu ändern. Das muss schon die indische Bevölkerung und die indische Politik tun. Es ist aber schon eine sehr lohnende und befriedigende Aufgabe unter den Bedingungen, die wir vorfinden, Basismedizin und Gesundheitsaufklärung zu betreiben. Dafür habe ich viele dankbare Patienten erlebt!
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