Ein Gefühl der Ohnmacht

Ein Bericht von Einsatzarzt Dr. Andreas Mittelstädt aus Mindoro

Neuer Arbeitsplatz

Der neue Arbeitsplatz von Dr. Mittelstädt

Die Ärzte von German Doctors helfen ehrenamtlich unentgeltlich in mehreren Projekten weltweit in Regionen in denen es keine oder nur unzureichende ärztliche Versorgung gibt. Hierzu fahren die Beteiligten in sechswöchigen Einsätzen anstelle Ihres Jahresurlaubes zu den Projekten und besetzten dort wahlweise die Ambulanzen (Slumgebiet von Kalkutta– Müllberg in Manila u.v.m) oder fahren in der sogenannten Rolling Clinic bzw. im Jeep zu entlegenen Orten in Wald und Bergregionen (u.a. Mindoro). Zusammen mit angelernten einheimischen Helfern, einer Übersetzerin und ggf. einem Fahrer, manchmal begleitet von einem Zahnarzt wird sogenannte Basismedizin als Versorgung Menschen zugänglich gemacht, die sonst aufgrund ethnischer, politischer, sozialer bzw. wirtschaftlicher Zusammenhänge keine medizinische Versorgung haben. Die Arbeit dient der Unterstützung und dem weiteren Aufbau der schon vorhandenen landeseigenen Versorgung- wo immer möglich. Behandelt werden alle Menschen unabhängig ihrer Herkunft, Glaube oder Ausrichtung, vom Neugeborenen bis zum Greis. Behandelt werden einschränkend nur Erkrankungen die wir mit unseren geringen „Bordmitteln“ auch lösen können, so das eine der größten Belastungen darin besteht, schwerwiegende Erkrankung auch bei jungen Menschen oder Kindern zwar zu erkennen, oder zumindest zu vermuten (Krebserkrankungen, Behinderungen, Nervenerkrankungen u.v.m. aber auch die Folgen von Armut, Hunger und Gewalt) aber eine Lösung nicht anbieten zu können, auch verteilen wir keine Lebensmittelspenden. Unser Schwerpunkt liegt bei den Infektionserkrankungen (Masern bis Malaria- Mittelohrentzündung bis eitriger Zehennagel) , bei den Impfungen soweit möglich, Beratung und Ausbildung der Helfer vor Ort und den typischen Armutserkrankungen Tuberkulose und AIDS. Die vor Ort eingesetzten Medikamente sind Spenden und werden im jeweiligen Land gekauft,- je nach wirtschaftlicher Möglichkeit werden die Patienten an den Kosten beteiligt- manchmal erfolgt diese in Form von Naturalien, wer gar nichts hat kann auch nichts geben und erhält dann eben eine Spende.

In den Projekten wird die Gesundheitsversorgung benachteiligter Menschen, aber auch Vorbeugung von Erkrankungen und Ausbildung zur Selbsthilfe, in den Vordergrund gestellt. So werden zum Beispiel in Gesundheitszentren die Kinder auf den Müllhalden der Großstädte, Menschen in den Slumgebieten oder abgetrennte Bevölkerungsgruppen in den unwegsamen Wald- und Bergregionen behandelt und unterstützt, die eben durch die jeweilige staatliche Gesundheitsversorgung nicht erreicht werden. Auf den Philippinen gibt es mehrere Projekte, eines davon auf der Insel Mindoro. Die Insel ist etwa 100km lang und 80 km breit. Ein ausgebauter Küstenabschnitt rundherum mit Stränden und Kleinstädten, Hafen sowie ein kleinerer Teil Flachland umgeben ein mächtiges zentrales Bergmassiv (bis 1300 Meter Höhe) mit weitestgehend Urwald bewachsen, nur spärlich mit einzelnen Stichwegen und Straßen erschlossen. Hier wohnen die Ureinwohner der Insel, die Mangyan.

Um 7 Uhr geht´s los

Mangyan Ureinwohner

Die Ureinwohner der Insel -die Mangyan

Der Einsatz selbst gestaltete sich wie folgt: Untergebracht im sogenannten Staff House in einem kleinen Ort an der Küste, starten wir jeden Morgen um 7 Uhr mit unserer „Rolling Clinic“ über teils sehr unwegsame Pisten zu einem Tagesbesuch in eines der Dörfer in den Bergen. Die „Rolling Clinic“ ist ein Jeep, der auf der Ladefläche unsere Medikamente, unsere Ausrüstung, unser Essen, unser Wasser und sogar unsere Stühle, den Tisch und alles andere Nötige aufgeladen hat. Besetzt ist der Wagen mit jeweils einem Fahrer (einheimischer Philippino- der bei kleinen OP´s und Zahnextraktionen hilft), einer Arzthelferin, die selbst Mangayan ist und von der Indiosprache ins Englische übersetzt (Mangyan haben eine eigene Sprache mit 6 verschiedenen Dialekten), einer Apothekenhelferin (auch Mangyan), einer Sozialassistentin (Philippino) und dem Einsatzarzt- also mir.

Unser Besuch im jeweiligen Dorf ist angekündigt, wir besuchen unsere Dörfer alle 4 Wochen. Nach einer Anfahrt von 1-2 Stunden werden wir vor Ort schon erwartet. Die Patienten und Angehörigen sind oft schon früh morgens aus ihren verstreut gelegenen Wohnorten und Hütten aufgebrochen und haben einen Fußmarsch von 1-2 Stunden hinter sich. Nicht gehfähige oder kleine Kinder werden von Nachbarn getragen. Der Hin – und Rückweg gestalten sich während der Regenzeit wegen der über die Ufer tretenden Bäche und Flüsse, aber auch wegen den Steigungen nicht immer einfach.

Die „Arztpraxis“ vor Ort ist häufig ein einfaches Bambusdach das mit Tüchern abgehangen wird, aber auch mal eine Kirche, ein Gesundheitscenter, das Büro des Ortsbürgermeisters, eine verlassene Haltestelle oder eine leer geräumte Hütte. Toiletten und Waschgelegenheit gibt es häufig gar nicht oder funktioniert mangels Wasser nicht – alles Wasser was wir brauchen müssen wir selbst mitbringen. Manchmal ist Strom vorhanden und hin und wieder gibt es ein festes Gebäude mit Strom und Ventilator (Luxus).

Überwiegend sind es Kinder

Sprechstunde

Auch allgemeine Informationen zur Vorbeugung von Krankheiten ist wichtig

Der Tag beginnt mit einer ersten Sichtung. Schwer kranke und Notfälle werden aus der Wartegruppe heraus sortiert und sofort behandelt. Dann folgt zunächst die Vorstellung unserer Gruppe, ein Morgengymnastik Programm und anschließend Vorträge zu Gesundheitsverhalten und Selbstbehandlung, z.B.: Wie funktioniert Verhütung, wie behandelt man Durchfall, wie ernährt man ein Kind, (Stillen ist gut und billig, reicht aber bei  zwei Lebensjahren nicht mehr aus), Wie schützte ich mich und andere bei Tuberkulose in der Familie und vieles mehr, vorgetragen durch eine der Helferinnen und dem Fahrer, während ich als Arzt mit meiner Übersetzerin die Sprechstunde beginne. Bei 60-100 Patienten pro Tag (bis 1 Stunde vor Dunkelheit) bleibt nicht viel Zeit.

60 % meiner Patienten sind Kinder im Alter von 0-12 Jahren, 25 % junge Erwachsene von 13-29 Jahren, 10 % Erwachsene zwischen 30-55 Jahre und nur etwa 5 % sind älter als 55, darunter einzelne auch sehr alte Patienten. Hauptsächlich sind es  Infektionen wie Durchfall und oder Fieber bei Typhus, Ruhr, Tropenkrankheiten mit Dengue Fieber, aber auch Mandelentzündung , Ohrentzündung , Lungenentzündung,  Blasenentzündung, viele Wurm und Parasitenerkrankungen, scheußlich infizierte Wunden und Blutvergiftungen, häufig auch Tuberkulose, viele Hauterkrankungen und Augenerkrankungen.  Schwangerenbetreuung und Kinderuntersuchung, Impfung, und chronische Erkrankungen wie Epilepsie, Diabetes mellitus, Bluthochdruck und Schlaganfall gehörten ebenso zum Programm. Oft habe ich aber auch Patienten mit einfachen Erkältungen oder verstopften Ohr, fehlender Brille, Frage nach Dauermedikamenten und vieles mehr, dreimal habe ich als „Ersatzzahnarzt“ Zähne gezogen.

Unsere Mittel: für ganz kleine Kinder mit schwerer Unterernährung haben wir eine Spezialnahrung dabei, ansonsten verteilen wir keine Lebensmittel. Medikamente, die wir dabeihaben, sind aus Spenden finanziert- auf den Philippinen gekauft und werden an die Patienten abgezählt als einzelne Dosierungen abgegeben. Für die Medikamente wird eine sehr kleine Gegenleistung erwartet,wer aber gar nichts hat, kann auch nichts geben. Dann werden die Medikamente ebenso abgegeben.

Öffentliches Gesundheitswesen: Die Dörfer, die wir besuchen, haben keine ärztliche Versorgung außer uns, der staatliche Gesundheitsdienst sucht diese nicht auf. Meist gibt es vor Ort eine schlecht bezahlte Hebamme für die Geburten und die staatlichen Impfungen, der nächste besetzte Gesundheitsposten ist einige Wegstunden entfernt. Auf Mindoro gibt es zwei Krankenhäuser, nur eines davon hat einen Operationssaal. Entfernung von unseren Zielorten bis zu dem größeren Krankenhaus: Drei Stunden Fußmarsch zur Küste und dann vier Stunden Bus (wenn der bezahlt werden kann). Das kleinere Krankenhaus ist nach 3-4 Stunden zu Fuß zu erreichen. Die Behandlung im Krankenhaus ist für die Mangyan umsonst (Präsidentenanordnung), bezahlt werden muss aber das tägliche Essen für Patienten und Angehörige (die Ihn gebracht haben), die Medikamente und teilweise die Untersuchungen.  Für Patienten, die wir in das Krankenhaus eingewiesen haben, haben wir in der Regel auch die Kosten übernommen, auch für alle von uns veranlassten Untersuchungen wie Röntgen der Lunge , Ultraschall  , Blutuntersuchung etc. Auch das finanziert sich aus Spenden. Der Test und die Behandlung von Tuberkulose ist frei.

Hypnotisierende Reisschale

Vor allem die kleinen Patienten sind in einem schlechtem Zustand

In einem kleinen Dorf in den Bergen sind wir in einer Kirche untergebracht. In der knappen Mittagspause sitzen wir um einen Tisch und essen unser mitgebrachtes Essen, umgeben von den weiter geduldig wartenden Mangyan. Als wir fertig waren, haben wir die Reste unserer Reisschüssel mit viel Überredungskunst einer kleinen Familie (Oma mit 3 Kindern, die Eltern arbeiten auf dem Feld) angeboten, die erst nach viel Zögern und sehr beschämt schließlich dann unsere kleine Gabe annimmt. Eins der Kinder bekommt den Reis in den Mund gesteckt, entdeckt dann selber wo das gute Essen herkommt und verfolgt danach gespannt und aufmerksam die Reisschüssel. Die Kleine lässt die Schüssel nicht mehr aus dem Blick und streckt sich danach. Als ich vier Wochen später wieder in diesem Dorf bin, entdecke ich die Kleine unter den Wartenden erneut, sie war zu der empfohlenen Kontrolle gebracht worden. Trotz einer gewissen Erfahrung und vielleicht auch etwas Abgebrühtheit hatte ich an diesem Tag einen akuten Anfall von Appetitlosigkeit und konnte von unserem Mittagessen nichts zu mir nehmen. Das Lächeln des Kindes beim Essen habe ich mitgenommen.

Keine Zeit für Trauer

Mitten in der laufenden „Sprechstunde“ wird unter viel Rufen und umgeben von vielen neugierigen Mangyan eine ältere Frau als Notfall in den Unterstand gebracht, in den Armen ein bewusstloses eineinhalb jähriges Kind. Die Frau ist mit dem Kind einen Weg von etwa einer Stunde gelaufen und völlig außer Atem.  Sie stellt sich später als Oma des Kindes vor und berichtet, dass die Mutter des Kindes vor knapp einem Jahr die Familie verlassen hätte, der Vater sei auf dem Feld und sie, die Oma, kümmere sich um den Kleinen und die anderen drei Kinder. Das Kind habe in der Nacht heftigen Durchfall bekommen, wohl auch Fieber, habe viel geweint und in den Morgenstunden mehrfach erbrochen. Als es dann plötzlich leise geworden sei, habe sie versucht das Kind zu wecken, was nicht ging, daher habe Sie Angst bekommen und das Kind genommen und sei losgelaufen. Sie hätte gewusst, dass wir heute in diesem Dorf sind und wollte eigentlich erst etwas später mit den Kindern kommen. Die anderen Kinder seien jetzt unter der Aufsicht der „ältesten“- 9-jährigen alleine zu Hause.

Das Kind ist in einem schweren Schock, der Durchfall ist blutig, es hat einen Fieberkrampf, Erbrochenes eingeatmet und droht in der Austrocknung zu versterben. Die Erkrankung heißt vermutlich Ruhr (Shigellen). Als gelernter Notarzt weiß ich, was zu tun ist, der ganze Ablauf der Maßnahmen spult sich in meinem Kopf ab. Als ich unseren Notfallkoffer öffne, fällt es mir siedend heiß ein- nichts von dem was ich jetzt für die Behandlung bräuchte, haben wir da.  Keine Kinderbestecke, keine Beatmungsmöglichkeit, keine speziellen Kindermedikamente, die letzte Infusion für Kinder ist vor drei Wochen verbraucht worden, wir müssen auf Nachlieferung warten. Wenn ich jetzt einen Rettungswagen aus Deutschland hätte… So einen wie er bei uns in der Gemeinde steht und wie er bei uns selbstverständlich ist! Mir bleibt nichts Anderes übrig, als mit einem Erwachsenen Gerät eine Infusion anzulegen und unseren Fahrer und eine der Helferin zu ordern, das Kind so schnell wie möglich ins Krankenhaus zu bringen. Der Weg dahin führt durch ein trockenes Flussbett und ist schwierig, unser Fahrer gibt sein Bestes. Das Kind verstirbt fünf Minuten bevor das Krankenhaus erreicht wird in den Armen der Arzthelferin.

Ohne Behandlung entwickeln sich die Krankheiten unaufhaltsam

Nachmittags sind alle wieder da, der Fahrer, die Arzthelferin, die Oma und das tote Kind. Das wurde ihr im Krankenhaus gleich wieder mitgegeben. Sie will es jetzt nach Hause tragen, Nachbarn wollen helfen. Was bleibt ist ein Gefühl der Ohnmacht, zu wissen was zu tun ist und mit leeren Händen da zu stehen. Für Abschied und Trauer bleibt keine Zeit, es warten noch 20 Patienten und es wird bald dunkel. Ein weit abgelegenes Dorf, hier leben die Mangyan noch sehr ursprünglich. Heute sind wir in einer ehemaligen Kirche untergebracht. Verwundert schaue ich mich um. Außen auf dem Gebäude sind Mangyan Zeichnungen angebracht,  die die bösen Geister vertreiben sollen. Innen ist die „Kirche“ nur schwer als solche zu erkennen, ganz an der Seite finde ich das christliche Symbol.

In den Räumen findet sich eine alte Gitarre. Als ich während der Mittagspause darauf etwas spiele- kommen wartende Patienten und Anwohner in die Kirche um zuzuhören. Über meine Übersetzerin wird mir die Geschichte der Kirche und der Gitarre erzählt. Ein Holländischer Priester hat diese Kirche vor gut 25 Jahren im Rahmen eines Missionsprojektes aufgebaut und betreut. Nach etwa 5 Jahren habe er schweren Herzens sein Priesteramt niedergelegt und eine Mangyan geheiratet, mit der er nun drei inzwischen fast erwachsene Kinder hat. Auch ohne den offiziellen kirchlichen Priesterstatus habe er hier in diesen Räumen die seelsorgerische Versorgung der Mangyans weiter wahrgenommen, bis er schließlich vor gut drei Jahren bei einem Unfall auf der Baustelle des neuen Dorfgemeinschaftshauses umgekommen sei. Die Gitarre ist seine und gerne erinnern sich die Mangyans an diesen Menschen. Später am Tage lerne ich die Frau des Priesters kennen. Sie organisiert für die Dorfbewohner den Verkauf von selbsthergestellten Kunsthandwerken wie gewebten Tüchern – oder aus Palmblättern geflochtenen Taschen- im Direktverkauf – an die Touristenläden an der Küste. Sie kann englisch sprechen und als wir gegen Abend zurückfahren, wird es ein herzlicher Abschied.

 

Keine Almosen, sondern Hilfe zur Selbsthilfe

Die Freundlichkeit der Mangyan ist ansteckend, im positiven Sinn

Der Einsatz auf den Philippinen war unentgeltlich, das heißt Arbeit und Zeit sind letztendlich Spende des jeweiligen Arztes. Von German Doctors als Organisation wird die Hälfte des Flugpreises dem jeweiligen Arzt erstattet, wobei die meisten Kollegen und auch ich auf diese Erstattung verzichten und den Flug- bzw die Reisekosten ebenfalls als Spende finanzieren. Unterkunft und Verpflegung vor Ort wird gestellt und damit letztendlich auch aus Spenden finanziert, so das auch hier die meisten Ärzte mit einem entsprechenden Beitrag in der Spendenbox Ihren Einsatz komplett selbst finanzieren. Alles andere, die Mitarbeiter vor Ort, die Rolling Clinic, die Medikamente und Hilfsmittel und die Organisation selbst finanziert sich nur und ausschließlich über Spenden. Natürlich möchte ich mit meinem Beitrag zu Spenden für diese Art der Hilfe aufrufen.

Rückblickend halte ich diese Art der Hilfe für richtig, ich habe mich selbst davon überzeugt, dass die Spenden auch tatsächlich da ankommen, wofür Sie gedacht waren: bei den Menschen auf dieser Erde, die unsere Hilfe brauchen. Sie stellen im Rahmen des Projektes keine reinen Almosen dar, sondern unterstützen Hilfe zur Selbsthilfe. Auch wird hier nicht die örtliche Regierung aus ihrer Verantwortlichkeit entlassen, sondern immer wieder auf diese hingewiesen.