Mein erster Einsatz

Ein Bericht von Einsatzarzt Dr. Reinhard Unverricht aus Mindoro

Mein erster Einsatz, das hört sich an wie „Mein erster Schulausflug“, was bekanntlich am nächsten Tag zum Aufsatz als Hausaufgabe führt. Ich bin aber ein schlechter Schüler, denn jetzt bin ich schon fast 1,5 Monate zuhause, nichts desto trotz hält meine intensive Erinnerung an.

Unser Fahrzeug

Ich war schon ganz schön überrascht, als ich erfuhr, dass ich alleine, also ohne zweiten Doktor auf Tour geschickt wurde und es war mit etwas Bauchschmerzen verbunden, trotz langer Jahre Einzelkämpfer als Landarzt. Nach der Unterweisung in Bonn fühlte ich mich aber gut vorbereitet und hatte meine Ruhe zurück. Vor Ort stellte ich fest, dass ich gar kein Einzelkämpfer war, sondern die besten Mitarbeiter hatte, die ich mir nur für meine Arbeit vorstellen konnte. Außerdem hatte ich eine liebenswürdige junge Kollegin auf der Südtour, mit der ich mich täglich per WhatsApp austauschen konnte, fachlich und menschlich – mal tröstend, mal stärkend, mal ermunternd. Der Einsatz in Mindoro durch die German Doctors besteht darin, dass von einer Basis aus täglich im 14-tägigen Turnus Siedlungen oder Plätze mit allem Notwendigen angefahren werden, um dann dort Patienten zu versorgen. Deshalb nennt sich das Projekt auch Rolling Clinic. Es war eine sehr intensive Zeit in allen Belangen.

Die körperliche Anstrengung bei den klimatischen Bedingungen, (tagsüber 28-32 Grad, nachts 24 Grad, immer bei recht hoher Luftfeuchtigkeit), die ich aber aufgrund meiner Tropenerfahrung und den ständig laufenden Ventilatoren gut wegstecken konnte – wenn mal nicht wieder der Strom ausfiel. Die Arbeitsbelastung: Aufstehen 5:30, im Auto 7:00, Ankunft am Arbeitsplatz 9:30, Arbeit mit Mittagspause von 30 Minuten um 12:30 bis – je nach Patientenaufkommen 14 – 18:00 Ankunft in der Übernachtungsstätte fast immer vor dem Dunkelwerden, gemeinsames Abendessen um 19:00, Schlafen spätestens um 22:00. Dabei habe ich in meiner Einsatzzeit etwa 1500 Patienten untersucht und behandelt, das bedeutet im Durchschnitt etwa 60 bis 80 Patienten am Tag.

Das ungewohnte Essen: Ich habe bewusst alles so gegessen, wie meine Mitarbeiter: morgens, mittags abends Reis mit wechselnden Beilagen; schmackhaft und einfach. Ich fand es gut. Zusätzlich habe ich mich noch mit tropischen Früchten versorgt und gelegentlich abends ein kleines philippinisches leckeres Bierchen als „Absacker“ getrunken.

Wartende Patienten

Geduldig warten die Patienten auf ihre Behandlung

Die Welt hinter einer Milchglasscheibe: Ich brauchte ständig einen Übersetzer ins Englische. Meine Mitarbeiter sprachen alle Englisch, aber viele Filipinos auf dem Land sprechen gar kein Englisch. Und ich begann meine Muttersprache im Gespräch zu vermissen. Die intensive Aufnahme der Eindrücke von tropischer Flora und Fauna in den Bergurwäldern und an den Seen und Küsten. Wer mich kennt, weiß um meine Leidenschaft dafür. Hier war ich richtig, bei all meinen Einsatzorten mitten in der Natur. Die intensive Aufnahme der Eindrücke von exotischen Gerüchen, Farben, Tönen, Musik und Geschmack und ich konnte, wenn immer es ging, an den Ständen der Garküchen nicht genug probieren. Die intensive Aufnahme der Eindrücke der Menschen: Ihre Herzlichkeit, ihr Lachen, ihre Offenheit, Neugierde und Hilfsbereitschaft.

Die Mangyan, ganz besondere Menschen

Die intensive Aufnahme der Eindrücke meiner Patienten: Diese besonderen Menschen: Mangyan, eine inhomogene Gruppe von etwa 220 000 Menschen, die vornehmlich in den Bergen und am Fuß der Berge leben, in acht Ethnien und Sprachen getrennt, weitgehend vom Leben der Filipinos abgetrennt und meist in völliger Armut und für uns das Wichtigste: ohne medizinische Versorgung lebend –  klein gewachsene, friedliche und liebenswerte Menschen mit vielen Kindern. Dazu gehört Ruhe und angespannte Aufnahme jedes Details in der Beobachtung aller nonverbalen Kommunikation, – bis auf meine Hände, das Stethoskop und die übersetzte Anamnese hatte ich ja nichts Anderes.

Kinder, Quell der Freude

Etwa 70% unserer Patienten sind Kinder. Ich habe es genossen mit ihnen zu arbeiten. Sie waren der Quell der Freude, aber auch der Sorge um ihre Gesundheit, und um die war es meist nicht gut bestellt. Die Kinder waren zunächst scheu aber neugierig und haben im Schoß oder Arm der Mutter oder des Vaters bei der Untersuchung gut kooperiert, kaum eines hatte geweint. Ich war gut in Bonn vorbereitet auf mein erstes extrem lebensbedrohtes Kind durch massive Unterernährung, extreme Austrocknung, Fieber, Anämie, und Lungenentzündung. Das fand ich bereits am dritten Tag vor, und ich werde das Gesicht dieses Kindes nie mehr vergessen und das ist gut so.

Der intensive Abgleich mit meiner Übersetzerin war überlebensnotwendig bei dieser Arbeit. Jacky, und auch meine Ersatzübersetzerin Kelan, haben sich extrem schnell auf  meine Fragen und meine Eigenarten einstellen können. Ich habe großen Respekt vor Ihnen, wenn man bedenkt, dass sie sich alle 6 Wochen auf einen neuen Arzt einlassen müssen. Die intensive Wohn- und Arbeitsgemeinschaft in Soccoro auf engstem Raum mit meinen Mitarbeitern über zwei Mal 9 Tage am Stück erforderte große Disziplin, Sensibilität für fremde Menschen und immer im Blickfeld die Gruppendynamik. Die Entdeckung der Langsamkeit: Alles hat seine Zeit, vor allem um 12:30 wenn die Mägen meiner Mitarbeiterinnen knurrten und sie sehnlichste die Mittagspause erwarteten.

Mein Team: Da war Rolando, unsere Fahrer, der Fels in der Brandung, sowohl im mentalen als auch physischem Sinn; außergewöhnlich groß für einen Filipino, ein sicherer, vorausschauender und vorsichtiger Fahrer und er konnte immer wieder lustige Dinge sagen, die ich nicht verstand, aber die zur Erheiterung im Auto führten. Ich hatte das Privileg in unserem 4×4 wheeler neben Rolando vorne sitzen zu dürfen, was mir die Möglichkeit gab, viele Schnappschüsse mit der Kamera zu machen.

Da war Jacky, meine Übersetzerin und meine engste Mitarbeiterin, mit einer herben, unverwechselbaren Lache. Sie hat eindeutig das Kommando in der Truppe und hat auch die Verantwortung für den täglichen Schriftverkehr am Abend und die saubere Dokumentation der Finanzen. Sie übernachtete auch immer im Doctors House in Calapan. Die Mädels haben sich alle jeden Morgen für die Einsätze schick gemacht.

Was für eine Mannschaft

Dann war da Sissil; sie hat die meiste Erfahrung, weil sie von Anfang an beim Projekt Nordtour dabei ist. Sie hat etwas von einem Feldwebel, was aber auch notwendig ist, da sie als Person an der Annahme der Patienten den klaren Blick über das Gewusel am Morgen nicht verlieren durfte. Sie machte auch immer vor Beginn der Sprechstunde die Gesundheitsunterweisung für die anwesenden Patienten. Sie kümmerte sich intensiv auch um unserer Patienten, die wir in die Klinik oder ins Tuberkulose -Programm schickten. Dann war da Raquel, eine Mangyan: unsere Krankenschwester und Herrscherin über die Medikamente, ruhig und eher leise und geliebt von den Patienten.

Dr. Unverricht bei der Arbeit

Und nicht zu vergessen, ebenfalls mit an Bord sind Köchinnen, zunächst Nena, später Nida, die sich beide rührend um unser leibliches Wohlergehen kümmerten und auch dafür sorgten, dass der Doktor immer in sauberen Kleidern dastand. Gleich zu Anfang hatte ich erzählt, dass mir gebratener Reis mit Knoblauch und Ingwer ganz besonders gut schmecken würde. Danach stand jeden Morgen eine Schale davon speziell für mich auf dem Tisch. Was für eine Mannschaft! So viel Lachen und Freude, trotz der Verwaltung des Mangels, wie Jacky zu sagen pflegte, wenn uns z.B. wieder mal Medikamente ausgegangen waren.

Die Tage in Soccoro, wo wir gemeinsam sehr eng zusammengelebt und gearbeitet haben, sind mir in Erinnerung geblieben. Ich erlebte, wie auch meine Mitarbeiter ausgepumpt und erschöpft erst mal nach der Arbeit platt aufs Bett fielen, um sich zu erholen. Ich hatte die Gelegenheit mit Ihnen drei Mal am Abend Fortbildung zu machen – ich nannte es Refresher – ; ich forderte sie auf, sich ein Thema auszusuchen, wir legten eine ¾ Stunde fest, ich sammelte ihr eher bescheidenes Wissen, versuchte zu ordnen und dann wurde es spannend. Sie wurden neugierig und stellten Fragen und wir überlegten uns gemeinsam Lösungen. Es hat uns ungemein viel Spaß gemacht.

Kein Tourist im fremden Land

Soccoro gab mir erstmals das Gefühl, in einem sehr fremden Land kein Tourist zu sein. Die medizinischen Herausforderungen waren eher basal, da aufgrund der bescheidenen diagnostischen Möglichkeiten und der beschränkten Ressourcen sich immer die Frage nach  der Sinnhaftigkeit einer diagnostischen und therapeutischen Maßnahme stellte. Es ging immer eigentlich nur um die sogenannten „red flags“ : d.h. gibt es Hinweise, die aufgrund falschen oder NichtHandelns zu einem lebensgefährlichen Zustand führen würden?  Ich hatte ja erst die Möglichkeit, den Patienten in 14 Tagen wiederzusehen, wenn er denn kommen würde. Außerdem ging es um Demut, sich einzugestehen, dass das Leben hier sehr endlich ist und auch so von diesen Menschen akzeptiert wird.

Da war sehr viel Detektivarbeit gefragt, und es hat sehr viel Vergnügen bereitet, mit Hilfe meiner Übersetzerin die Beschwerdeschilderung so zu befragen, dass es möglich wurde, die  wahrscheinlichste Ursache zu benennen. Die Lungen-Tuberkulose, die bei den Mangyan erschreckend häufig ist, aber Gott sei Dank, noch nicht diese hohen Resistenzquoten wie z.B. in Indien hat, ist ein gutes Beispiel für diese Detektivarbeit, die schon im Vorfeld durch Sissil geleistet wurde, da hier ein Fragenkatalog abgearbeitet wurde, der entweder auf eine Lungen-Tuberkulose mit hoher Wahrscheinlichkeit hinweist oder eben nicht. Für den „Graubereich“ war dann Jacky und der Doktor gefragt, hier nochmals in der Befragung tiefer zu schürfen und zusammen mit dem Befund des Abhörens der Lunge eine pragmatische Entscheidung zu treffen.

Die Menschen sind oft mangel- und fehlernährt

Pragmatisch wäre eine Entscheidung in so einem Fall,  eine Lungenentzündung als gegeben anzunehmen und diese klassisch mit einem Antibiotikum zu behandeln und den Patienten in 14 Tagen wiederzusehen und den Fragenkatalog erneut abzuarbeiten, in der Hoffnung eben keine Tuberkulose, sonder „nur“ eine Lungenentzündung behandelt zu haben – oder zweigleisig unter Ausnützung der diagnostischen Ressourcen (Röntgen und Untersuchung des Auswurf ) sowohl eine antibiotische Behandlung als auch die diagnostischen Möglichkeiten gleichzeitig ! auszuschöpfen, wobei „gleich“ auch mal ein bis zwei  Monate bedeuten konnte.

Ein anderes Beispiel war die geäußerte Angabe: Chestpain – meint: Schmerzen im Brustkorbbereich. In Deutschland würden wir sicherheitshalber erst mal versuchen alle Möglichkeiten einer Herzerkrankung auszuschließen. Hier im Urwald stellte sich die Frage nach dem was, dem wo und dem wann.

Das führte fast immer zu der Verdachtsdiagnose eines Hungerschmerzes, der aber auch durch zu viel Einnahme von Schmerzmitteln verstärkt gewesen sein konnte. Die Behandlung bestand in der Gabe von säurehemmenden Medikamenten. Ich muss hier einen Augenblick innehalten, weil mir schmerzlich bewusst wird, dass mein  humanitärer Auftrag als Arzt bei den German Doctors kollidiert mit der unlösbaren Situation, dass diese Mangyan Bevölkerung in einer unerträglichen Mangelernährungssituation in einem Staat lebt, dessen Menschen zu 90% überzeugte Christen sind. Warum bekommt dieser von Hunger geplagte Mensch ein Medikament und nicht etwa eine Schale Reis ?

Der Abschied fiel nicht leicht

Meine Aufgewühltheit bei diesen Gedanken wird aber durch den Blick auf die Geschichte dieser Nation besänftigt. Ein Land, dem es als erstes in Südostasien die Befreiung aus der Unterdrückung durch die Kolonialmacht ( in diesem Fall Spanien ) gelang und einen Menschen ehrt, den sie den ersten Filipino nennen: Jose Rizal, der in mir, nachdem ich mich mit seiner Person beschäftigt hatte, große Bewunderung auslöste. Wie immer, auch wie bei uns,  ist es eine Frage der Verteilung der Ressourcen und der Macht, die über Elend ( Krankheit ) oder Wohlstand entscheiden. Nicht aber über Glück.  – siehe das Märchen: Hans im Glück.

Die Mangyan kümmern sich liebevoll um ihre Kinder

Und so schließt sich der Kreis beim Anblick dieser meiner Patienten, der Mangyan, die ich meist fröhlich erlebte.  In der Zeit, in der ich auf der Insel Mindoro tätig war, kam es auch zu einem Taifun, der zwar im Flachland zu weniger Schäden führte, aber vor allem die Flüsse in den Bergen über die Ufer treten ließ und große Verwüstung auf den Feldern und Plantagen der Mangyan verursachte. Deshalb rief die Organisation der German Doctors zu einer Spendenaktion auf, um die erste Not dieser Menschen zu lindern. Es war eine große Arbeit, all die von den Spendengeldern gekauften Lebensmittel in kleinere Gebinde umzupacken, um familiengerechte Pakete zu schnüren. Diese Arbeit, in dieser einen Woche, fand immer nach dem Zurückkommen von der Tour statt und zog sich bis zum späten Abend. Es war für alle dann immer eine große Freude, wenn wir nach der Arbeit mit den Patienten anschließend die Pakete verteilten. Es wurde akribisch der Empfang der Pakete bestätigt und ich konnte sehen, wie sehr diese Menschen durch Schulbildung erfasst wurden oder nicht – mal der Daumenabdruck, mal die geschriebene Unterschrift.

Abschied aus Mindoro

Der Abschied von den Mangyan und meinen Mitarbeitern fiel mir nicht leicht und ich hoffe, meine humanitäre Aufgabe im Sinne der German Doctors erfüllt zu haben. Mein tiefer Wunsch wäre, dorthin noch mal zurückkehren zu können. Ich selbst bin darüber zum überzeugten Frühaufsteher geworden und habe eine große Ruhe von dort mitgenommen, diese ist fortwährend nachhaltig.