Armut und unentdeckte Krankheiten

Ein Bericht der Einsatzärztin Delia Kassi aus Nairobi

Delia Kassi mit Kallysto von der Notaufnahme

Das Baraka Health Center der German Doctors liegt mitten in Mathare, dem zweitgrößten Slum Nairobis in Kenia. Im größten leben 2 Millionen Menschen, das heißt, dass weit über die Hälfte der Einwohner der Stadt in einem Slum wohnen. Es ist eng, viele Hütten sind aus altem Wellblech, in den engen Gassen gibt es viel Müll, Hühner, überall hängt Wäsche. Die Leute versuchen, sich möglichst sauber anzuziehen. Es gibt öffentliche Toiletten und Duschen, dafür muss man bezahlen.

Seit den 90ger Jahren schon gibt es das Projekt. Es arbeiten hier eine kenianische Ärztin, eine gute Handvoll Clinical Officers (vom Grad der Ausbildung zwischen Krankenschwester und Arzt), Krankenschwestern und Sozialarbeiter. In Baraka partizipiert man an zwei großen Public Health Programmen, die vom kenianischen Staat kontrolliert und gefördert werden: HIV und Tuberkulose. Beide Programme laufen sehr sehr gut. Daneben gibt es Extra-Sprechstunden für Sichelzellanämie, Epilepsie, Diabetes, Hypertonus und die normale offene Sprechstunde. Auch eine Augenheilkunde-Einheit gibt es. Rasch wird klar: dies ist ein bereits gut etabliertes, funktionierendes Projekt mit motivierten Mitarbeitern.

 

In Kenia sind Schuluniformen üblich

Die Menschen, die sich schon früh am Morgen vor dem Health Center einfinden und lange und sehr geduldig warten, werden in der Sprechstunde gesehen. Man kann Infusionen geben und kleinere Eingriffe machen. Schwer kranke Patienten werden verlegt, zum Teil auch mit der projekteigenen Ambulanz. Während meines Aufenthalts- noch immer pandemiegeprägt- werden in Baraka bis zu 350 Menschen pro Tag behandelt. Das Projekt hat einen recht guten Ruf in der Bevölkerung.

Eine junge Frau kommt mit Bauchschmerzen. Sie sitzt etwas zusammengekauert und spricht sehr leise und wenig moduliert. Ich untersuche sie, der Bauch ist weich, ein leichter Druckschmerz im Oberbauch lässt sich auslösen. Keine besonderen Befunde. Ich frage sie, ob sie sonst noch etwas zu berichten hat, wie es ihr in ihrem Leben ginge. Sage ihr, dass solche Schmerzen auch manchmal seelische Ursachen haben können. Etwas zögerlich erzählt sie, dass sie mit einem älteren Mann verheiratet sei, der bereits vier Kinder in die Ehe mitgebracht hätte. Sie hätte mit ihm weitere vier Kinder. Vor kurzem sei plötzlich seine erste Frau wieder aufgetaucht, die ihn vor Jahren verlassen habe. Ihr Mann sei zu dieser Frau zurück gekehrt und habe sie im Stich gelassen. Sie sei völlig auf sich gestellt und wisse nicht, wie sie die Kinder durchbringen solle.

 

Impressionen aus dem Slum

Wir veranlassen einen HIV Test. Er ist positiv. Die Frau kommt sofort in die Beratung, sie kann es nicht fassen. Eine Sozialarbeiterin des HIV Teams nimmt sich ihrer an. Es soll auch gleich am Tag der Testung mit den antiretroviralen Medikamenten begonnen werden, um die Patienten nicht zu verlieren.

Eine andere Frau klagt über Rückenschmerzen. Sie arbeite als Reinigungskraft bei den Somaliern, die in den Hochhäusern wohnen, sagt sie. Auch sie spricht sehr leise. Ich frage auch sie, was es sonst noch gibt. Sie beginnt sofort zu weinen. Ihr Mann ist gewalttätig und trinkt. Sie habe schon alles versucht, mit seiner Familie gesprochen und mit ihm. Er würde nun nicht mehr schlagen, sie aber immerfort beleidigen, sie halte es kaum aus, den ganzen Tag ginge das so.

 

Felix und seine Mutter

Felix kommt mit seiner Mutter. Beide wollen in die Sprechstunde, das heißt, Felix will eigentlich nicht. Seine Mutter behauptet, er habe starke Kopfschmerzen, aber er dementiert. Er sagt, es habe in der Schule einen Unfall gegeben, daher habe er die Beule auf der Stirn. Aber er habe keine Schmerzen. Es sei heute passiert. Die Mutter erzählt ihre Lebensgeschichte. Sie sei immer ausgestoßen gewesen, schon als Kind. Ihre Mutter habe sie nie gemocht, deshalb sei sie nach Nairobi gekommen. Als sie schwanger wurde, kehrte sie aufs Land zurück, aber wieder wurde sie verstoßen.
Mit dem Vater der Söhne lebe sie schon seit langem nicht mehr zusammen, er sei weg. Auch der große Sohn sei fort, sie wisse nicht, wo er ist, seit Jahren schon. Sie habe nur Felix. Er würde ihr manchmal zuhören. Es sei schwer, das Geld für Schule und Essen aufzutreiben. Felix ist 16 und sehr mager. Er spricht nicht viel. Ich schicke die Mutter zum Counceling und gebe Felix ein Schmerzmittel.

Ein paar Tage später kommen sie wieder, wieder sagt Felix, es ginge ihm gut. Aber er sieht nun schlecht aus. Angeblich hat er auch Husten, aber die Lunge ist frei. Ich veranlasse ein Labor. Die Blutsenkungsgeschwindigkeit, ein unspezifischer Marker für Entzündungen oder Tumore, ist extrem erhöht. Ich weiß nicht, wo der Fokus der Infektion ist, aber ich verschreibe ein breites und relativ starkes Antibiotikum. Er soll in zwei Tagen wiederkommen.

Unser Ernährungszentrum

Das tut er aber nicht. Ich werde unruhig. Irgendetwas stimmt nicht. Es drängt mich, nachzuhaken. Die kenianische Ärztin erzählt am Mittagstisch von einem ähnlichen Fall. Ein zehnjähriges Mädchen, das auf die Schulter gestürzt ist. Nach ein paar Tagen hat sie eine riesige Schwellung und dann bekommt sie eine Sepsis und stirbt auf dem Weg ins Krankenhaus. Wir suchen die Karte von Felix. Die Telefonnummer ist falsch. Wir suchen beim Counceler die Nummer der Mutter, die ist richtig. Einen Tag später kommt Felix wieder. Immer noch ist da diese dicke Beule und diesmal taste ich Flüssigkeit unter der Haut. Die Berührung tut ihm furchtbar weh. Ich überlege, dass der Bluterguss vielleicht entlastet werden muß, vielleicht infiziert ist und stelle ihn dem Chirurgen vor. Der sagt auch, man solle aufschneiden. Ich mache einen Ultraschall, ja, da ist auf jeden Fall Flüssigkeit. Die Entzündungswerte sind besser geworden. Zuerst kommt nur Blut. Ich bitte den Chirurgen tiefer zu schneiden und auf einmal entleert sich jede Menge Eiter. Der Ergusss ist gekammert, man kommt nicht so gut dran. Es wird ausgiebig gespült, alles nur unter Lokalanästhesie. Felix ist tapfer, aber es tut ihm sehr weh. Am nächsten Tag schauen wir uns alles noch einmal an, es geht ihm besser, ich hoffe, er schafft es und bekommt nicht doch noch eine Sepsis. Immer ist er viel zu dünn angezogen, er schlottert.

Die Müllhalde Dandora

Am Wochenende ist outreach. Wir fahren in einen anderen Slum. Dort gibt es eine Initiative eines Mannes aus dem Slum, der ein erfolgreicher Sportler geworden ist. In einer von ihm gegründeten Schule machen wir Sprechstunde. Der Slum liegt in unmittelbarer Nachbarschaft zu Dandora, der größten Müllhalde Afrikas. Tag und Nacht wird der Müll angefahren, umgeschichtet und verbrannt. Schwarzer Rauch steigt auf, es brennt in den Augen. Der Geruch ist faul und süßlich. Berge von Müll unterschiedlichen Alters türmen sich so weit ich schauen kann. Schwärme von Marabus kreisen darüber und hocken auf der Halde. Lastwagen kommen und laden ab, Bagger fahren und bewegen den Müll. Dazwischen wandernde Punkte: Menschen und Vieh. Auf der Suche nach Brauchbarem. Brauchbar ist, was an Recyclingfirmen verkauft werden kann oder auf der Strasse an andere Leute. Manche Leute, die zur Sprechstunde kommen, tragen Gummistiefel. Ich frage mich, ob es die sind, die nachher hochgehen und sammeln. Auch hier, im Müll, bilden sich Strukturen. Offenbar auch Hütten, irgendwo, mittendrin. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass jemand dort übernachtet, geschweige denn wohnt. Und doch ist es wahrscheinlich der Fall.

 

Warten auf die Behandlung

Die Kinderärztin ist krank und muß zu Hause bleiben. Ich sehe also auch ein paar Kinder. Ein Junge, 3 Jahre alt, kommt mit seiner Mutter aus „up country“. Er hat unter der Achselhöhle eine tiefe, belegte Wunde, sicher 3cm Durchmesser. Vor zwei Monaten sei es aufgetaucht und auf dem Land nur gesäubert und verbunden worden. Es würde aber nicht besser werden. Der Junge ist apathisch und unterernährt. Die Mutter hat ihn geholt, sie war gar nicht vor Ort, deshalb ist die Anamnese schiwerig. Dieser Junge ist krank, „this one is really sick“. Hier muß ich wirklich rasch herausfinden, was er hat. Ich denke an Tuberkulose. Wir machen einen Abstrich, der ist negativ- zu trocken. Ein Röntgenbild der Lunge auf Kosten der Organisation, ein Stempel der Oberschwester Lilian, ohne Diskussion, augenfällig, dass die Familie sehr
arm ist. Das Röntgen zeigt einen großen Pleuraerguss auf der Seite des Ulcus unter der Achsel. Leicht zu punktieren, das Ergebnis wird bald da sein, mit der Tuberkulosebehandlung wird gleich begonnen, klinisch spricht alles dafür. Das Kind bekommt noch eine Mahlzeit im Ernährungszentrum, die Mutter auch. Dann soll er aber ins Krankenhaus, damit der Erguss vollständig abpunktiert werden kann.

Delia Kassi mit Doctor Janet

Heute sehe ich eine Frau, die ihr kleines Mädchen bringt. Dem geht es eigentlich recht gut. Aber sie selbst ist ganz
ausgemergelt. Ich frage ein bißchen nach der Situation. Sie sagt, sie habe sechs Kinder und würde mit vieren auf der Strasse leben. Ihr Mann, ein Alkoholiker, habe sie aus dem Haus getrieben. Sie sei dann nach Korogocho gezogen, der Slum neben der Müllkippe, aber sie habe die Miete nicht bezahlen können und sei dann vom Vermieter auf die Strasse gesetzt worden. Sie habe versucht, sich auf der Kenyatta Avenue durchzuschlagen. Auch sie geht natürlich zum Counceling. Ich treffe die Sozialarbeiterin beim Mittagstisch. Die Frau habe sehr viel erzählt, eine der besonders schrecklichen Geschichten von körperlicher Gewalt, Vergewaltigungen und bitterster Armut. Die Organisation will ihr für 2 Monate die Miete bezahlen, ausserdem bekommt sie im Ernährungszentrum zu essen. Ich habe das Gefühl, dass das wirklich etwas Gutes ist und bin gerührt. Kurz vor meiner Abreise erzählt mir Rose, die zuständige Sozialarbeiterin, dass die Frau jetzt mit ihren Kindern in einer sicheren Behausung ist.