Schlaflos auf dem Mittelmeer: German Doctor im Dauereinsatz Teil 1

Sea-Eye-4-Crew rettet 406 Menschen in 24 Stunden

Zur besseren medizinischen Versorgung geretteter Bootsflüchtlinge auf dem Mittelmeer kooperieren wir seit Mai diesen Jahres mit der zivilen Seenotrettungsorganisation Sea-Eye e.V. Erster German Doctors-Einsatzarzt auf der jüngst zum Rettungsschiff umgebauten Sea-Eye 4 war der Hamburger Internist Dr. Stefan Mees. Im Gespräch mit unserer Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Chantal Neumann, erzählt er von schönen, aber auch von bedrückenden Momenten während der rund dreiwöchigen Mission.
Unterstützt wird der humanitäre Einsatz der Sea-Eye 4 auf dem Mittelmeer von United4Rescue, dem Bündnis für die zivile Seenotrettung, und der Hilfsorganisation German Doctors.

Endlich in Sicherheit

Neumann: Dr. Mees, hinter Ihnen liegen ereignisreiche drei Wochen. Zuallererst möchte ich gern wissen: Würden Sie einen weiteren Einsatz als Schiffsarzt auf der Sea-Eye 4 machen?

Mees: Ja! Ohne jede Vorerfahrung in der Seenotrettung war dieser Einsatz für mich gewissermaßen ein Sprung ins kalte Wasser. Aber ich habe interessante Menschen kennengelerntund konnte meine Erfahrungen als Arzt sinnvoll einbringen und vielen Menschen in einer extremen Situation helfen. Das war wirklich erfüllend. Ich will dennoch nicht verschweigen, dass die Zeit an Bord sehr anstrengend war und es auch bedrückende Momente gab. Die Schicksale der Flüchtlinge und generell das Thema Flüchtlingspolitik beschäftigen mich sehr nachhaltig.

Neumann: Haben die Erfahrungen der vergangenen Wochen Ihren Blick auf die europäische Flüchtlingspolitik verändert?

Das Rettungsschiff Sea-Eye 4 brach am 8. Mai 2021 vom spanischen Hafen in Burriana zum ersten Mal zu einem Einsatz auf. Mit an Bord: Schiffsarzt und German Doctors-Einsatzarzt Dr. Stefan Mees.

Mees: Definitiv. In meinen Augen ist jedes Menschenleben kostbar, und keines sollte in den Wassern des Mittelmeeres verloren gehen. Ich bin Arzt geworden, um Leben zu erhalten! Hautnah mitzuerleben, dass wir Europäer unsere eigenen Gesetze nicht einhalten, und zu sehen, dass Menschenleben für manche nicht schützenswert sind, erschüttert mich. Wenn ich an die menschenverachtenden Methoden der europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache Frontex denke und auch an die fragwürdige Wahl der bei der Grenzsicherung unterstützenden Länder … Ich finde es zudem unerträglich, dass die Würde und die Rechte von Menschen weder in den Flüchtlingslagern rund um das Mittelmeer noch bei der staatlichen sogenannten Seenotrettung eingehalten werden.

Neumann: Haben diese Missstände Sie motiviert, sich auf der Sea-Eye 4 zu engagieren?

Mees: Ehrlicherweise muss ich sagen, dass ich mich bei German Doctors ursprünglich für einen Einsatz an Land, und zwar in Kalkutta beworben hatte. Coronabedingt konnten zu dem Zeitpunkt aber keine Einsatzärztinnen und -ärzte aus Deutschland in diesem sehr etablierten Projekt arbeiten. Als ich gefragt wurde, ob ich mir als Hamburger, der doch bestimmt seefest sei,
alternativ einen Einsatz auf dem Seenotrettungsschiff vorstellen könne, habe ich nicht lange überlegen müssen. Tatsächlich bin ich des Öfteren als Dialysearzt auf Kreuzfahrtschiffen mitgefahren und liebe längere Seetouren.

Neumann: Wie haben Sie sich auf den Rettungseinsatz vorbereitet? Ich vermute, die typischen gesundheitlichen Probleme der Flüchtlinge unterscheiden sich von den meisten Beschwerden von Kreuzfahrern.

Sechs Mal sichtete die Crew Menschen in Seenot und nahm sie umgehend an Bord der Sea-Eye 4.

Mees: Ja, tatsächlich – obwohl manche Beschwerden auch bei beiden Gruppen vorkommen: Seekrankheit zum Beispiel oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Zur gezielten Vorbereitung habe
ich an zwei von Sea-Eye durchgeführten medizinischen Onlineseminaren teilgenommen. Ergänzend dazu habe ich mich privat über typische Krankheitsbilder von Mittelmeerflüchtlingen informiert und mich mit den Grundzügen der Kinderheilkunde und der Geburtshilfe vertraut gemacht.

Neumann: Welche sind denn typische gesundheitliche Probleme von über die Seeroute Flüchtenden, und waren Sie mit diesen tatsächlich konfrontiert?

Mees: Erste-Hilfe-Maßnahmen bei Ertrinken stehen natürlich ganz oben auf der Liste. Auch typisch sind schwere chemische Verätzungen, sogenannte „chemical burns“. Diese entstehen durch ein Gemisch von Benzin, Salzwasser und Urin. Wenn Flüchtlinge auf überfüllten Booten reisen, sammelt sich das ätzende Gemisch am Boden des Bootes und greift die Haut derjenigen an, die in der Mitte der Boote sitzen. Zum Glück mussten wir keinen Menschen vor akutem Ertrinken retten, und auch Verätzungen hatte niemand. Das war sicher dem guten Wetter und der relativ ruhigen See zu verdanken.

Neumann: Was für ein Glück. Vor dem Auslaufen lag die SeaEye 4 noch einige Tage im spanischen Hafen Burriana. Mit welchen Gefühlen sind Sie an Bord gegangen, und was ist in diesen
Tagen an Bord passiert?

Mees: Ich war neugierig und hatte Respekt vor den unbekannten Anforderungen. Wissen Sie, ein wenig Angst ist bei solchen Einsätzen immer dabei. Angst vor etwas Unerwartetem. Ich hatte zum Beispiel Sorge, dass wir eine komplizierte Geburt an Bord haben könnten, massive Schwangerschaftskomplikationen oder dergleichen. Beruhigt hat mich, dass ich Teil eines dreiköpfigen sogenannten „Medic-Teams“ war. Ein Notfallsanitäter und eine Intensiv-Krankenpflegekraft waren auch an Bord. Hilfreich war, dass wir die vom German Doctors e.V. finanzierte Krankenstation einrichten konnten, und die Ordnung in unserem „Hospital“ – so der Bordname der Krankenstation – festlegen konnten. Die Sea-Eye 4 war ja gerade erst in Rostock zum Rettungsschiff umgebaut worden, und auch in Burriana wurde noch am Schiff gearbeitet.

Neumann: Am 8. Mai ging es von Spanien aus los in Richtung der sogenannten Rettungszone. Wie darf ich mir den Tagesablauf an diesen ersten Tagen auf See vorstellen?

Viele Flüchtlinge berichteten von furchtbaren Erlebnissen in ihren Herkunftsländern und auf der Flucht. Alle träumen von einem besseren Leben in Sicherheit vor Krieg, Gewalt und Armut.

Mees: Das waren spannende und intensive Tage. Auf dem Transit ins Rettungsgebiet haben alle Abteilungen für den Ernstfall trainiert. Also die Besatzungen der Rettungsboote, das Empfangskomitee an Bord der Sea-Eye 4 sowie das 3-köpfige medizinische Team. Alle erdenklichen Situation wurden geübt, Abläufe perfektioniert, und nicht zuletzt haben wir uns als Crew dabei kennen- und extrem schätzen gelernt.

Neumann: Apropos: Wie viele Mitglieder hatte die Crew, und war die Stimmung durchweg gut?

Mees: Der Teamspirit war außergewöhnlich eng, extrem harmonisch und machte nicht an den Grenzen der „Abteilungen“ halt. Wir waren 23 Crewmitglieder unterschiedlichen Alters und Hintergrunds. Die nautischen Offiziere, Schiffsingenieure und anderen sogenannten „able seamen“ hatten Erfahrung zur See und die jeweils notwendigen Patente. Die weiteren Mitglieder hatten fast alle akademische Abschlüsse in unterschiedlichen Bereichen. Viele hatten Seeerfahrungen durch frühere Rettungseinsätze gesammelt oder hatten sich im Lager von Moria engagiert. Das Schöne war: Alle hielten zusammen, stützten sich und waren extrem solidarisch. Eine sehr beglückende Erfahrung! Wichtig war, denke ich, dass alle Crewmitglieder für sämtliche an Bord anfallenden Tätigkeiten reihum eingeteilt waren – also für Küchenarbeit, Wäsche waschen, putzen etc. Das fing beim An-Bord-Nehmen und Verstauen des Proviants in Spanien an und endete mit dem Aufräumen am Ende unserer Mission.

Hier geht es zum zweiten Teil des Interviews.