Kein Licht im Blechhüttendschungel

Ein Bericht von Einsatzärztin Dr. Rosemarie Pichler aus Chittagong

Menschen, Menschen, Menschen…Chaos auf den Straßen von Chittagong. Auf den ersten Blick ist nicht zu erkennen, ob Linksverkehr herrscht, auch nicht auf den zweiten und dritten Blick… Die Unterkunft ist spartanisch, meine beiden Kolleginnen teilen sich ein Zimmer (die Ärztewohnung wird gerade um- und ausgebaut). Ich habe Glück allein ein Zimmer zu bekommen, denn vor mir war ein Kollege hier.

Dr. Pichler mit einem kleinen Patienten

An den Alltag muss man sich rasch gewöhnen, denn viele warten in der Ambulanz des MCPP (Medical Centre for the Poorest of the Poor). Eingeführt wird man von der Kollegin, die schon zwei Wochen hier ist. Ich hoffe, einiges medizinisch erarbeitetes Wissen aus meinen beiden Kalkutta-Einsätzen aus meinen tief vergrabenen Erinnerungen zurück ins Gedächtnis rufen zu können. Gelingt… Manches scheint jedoch auf den ersten Blick anders, ich sehe wesentlich mehr ausgemergelte junge Mütter mit einem fürs Alter zu kleinen Kind auf der Hüfte, das Geschwisterkind auch noch klein, aber schon gehend. Müde, schlapp, mit Fieber am Abend, Kreuzschmerzen, wen wundert’s. An einem Samstag begleiten wir die Sozialarbeiterin in einen Slumbezirk. Sie spürt Menschen auf, die Hilfe brauchen und sich keinen Arztbesuch leisten können.

Ein Lichtblick im Elend

Der neue Arbeitsplatz für die nächsten sechs Wochen

Die ‚Wohneinheiten‘ ( wenn man diese überhaupt so nennen kann) in unserem besuchten Slum sind teuer, klein, finster -werden von kinderreichen Familien bewohnt. Für 10 Wohneinheiten gibt es ein WC für Frauen, eines für Männer. Für einen 20 Liter Kanister sauberes Trinkwasser pro Familie und Tag muss man bezahlen, wenn man’s kann. Elektrizität gibt es, ist teuer, oftmals fällt der Strom aus. Gemeinschaftsküche…

Die vielen Kinder kann man kaum zählen. Spätestens jetzt verstehen wir drei Kolleginnen, warum die Frauen, die wir in den Ambulanzen sehen, müde, ausgemergelt und krank sind. Sonnenstrahlen
verirren sich nicht in diesen Blechhütten Dschungel. Schlecht fühle ich mich, wenn ich sehe, mit welcher Geduld die Sozialarbeiterin die Einladungskarten für die Ambulanz schreibt und wie wenig Zeit ich am nächsten Tag habe, um mir die Krankengeschichte von Bengali nach Englisch übersetzen zu lassen, zu untersuchen und zu behandeln. Schlimme Schicksale gibt es in ausreichender Zahl, z.B ein 4 jähriger taub(stummer) Bub mit fehlendem linken Ohr, das rechte deformiert und tief auf der Wange sitzend. Eine 31-jährige Mutter mit drei Kindern, nun mit Zwillingen schwanger… Eine 26 jährige Frau im Rollstuhl -vor 3 Wochen mit einer glühenden Eisenstange von ihrem Mann kurz und klein geschlagen- nun querschnittgelähmt mit tiefen Verbrennungswunden an Hüfte und Kreuzbein… Fünf Kinder, das Kleinste 7 Monate. Ob diese Mutter überlebt? Man soll die Hoffnung nicht aufgeben.

Arbeiten bei Kerzenlicht

Noch eine traurige Geschichte: Mutter von vier Mädchen, wieder hochschwanger und spürt seit zwei Tagen keine Kindsbewegungen. Ich schicke sie ins Spital. Zwei Tage später kommt sie mit einem Neugeborenen im Arm (1800 Gramm schwer) wieder. Will das Baby nicht behalten- es ist das fünfte Mädchen. Wahrscheinlich hat sie bis zur letzten Sekunde gehofft, einen Buben zu bekommen. Die Liste der Geschichten ist beliebig fortführbar. Der Lichtblick in all diesem Elend? An einem Tag drei Patienten, die mich anlächeln! Was wäre mit all den vielen Patienten, wenn German Doctors nicht unermüdlich versuchten, ihnen Hilfe angedeihen zu lassen? Dies wahrscheinlich auch meine Motivation, immer wieder meine Kräfte zur Verfügung zu stellen…