Kinderarbeit an jeder Straßenecke

Ein Bericht von Einsatzärztin Dr. Melanie Wruck aus Chittagong

Fischerboote am Strand von Cox´s Bazar

Über eine Fernsehreportage stieß ich eines Tages auf den German Doctors e.V., eine international tätige Nichtregierungsorganisation, die Ärztinnen und Ärzte in Entwicklungsländer entsendet. Bei so viel Elend in der Welt helfen, die medizinische Ausbildung nutzen, um etwas weiterzugeben, fern von der sinnlosen Ökonomisierung des Gesundheitswesens arbeiten, über den Tellerrand blicken, Fremde/s kennenlernen…all das wollte ich auch! Im November letzten Jahres kam dann endlich die Zusage der Organisation und nun bin ich selbst, mit dem Rückhalt von Freund, Familie, Freunden, Kollegen, German Doctor in Chittagong / Bangladesch. Kurz vorher kamen Selbstzweifel auf und eine Vorbereitung, gerade auf die kulturellen Besonderheiten war nur bedingt möglich. Ich stolperte also in ein Land, unter dem ich mir nur wenig vorstellen konnte.

Am Flughafen empfing mich eine geschäftige Menschentraube. Auffällig waren die sehr unterschiedlichen Kleidungsrichtungen. Viele Männer trugen Taqiyha (Gebetskappe), Kurta (knielanges Kleidungsstück) oder Lungi (Tuch, welches um die Hüften geknotet wird). Im Knoten versteckt, werden Wertgegenstände aufbewahrt. Anfangs dachte ich, die Männer mit Lungi fassten sich ständig in den Schritt, dabei kontrollieren sie lediglich, ob die Geldbörse noch da ist. Die Frauen waren elegant in Sarees (4-8 Meter langes Tuch mit bauchfreiem Top darunter) oder die modernere Variante Salwar Kamiz (Bluse mit Hose und Tuch) gehüllt. Die Verschleierungsformen der Frauen variierten von Hidschab bis Nikab und machten die muslimische Prägung des Landes nochmal deutlicher. Auch westliche Bekleidung war vertreten. Am Flughafen erlebte ich meinen ersten Stromausfall in diesem Land, der von einem kollektiven „Ohhhh“ der Reisenden begleitet wurde und mich für die kommenden Wochen, auch bei meiner Arbeit in der Ambulanz und im Slum mehrmals täglich begleiten würde.

„Bad luck“ für Jogis Jungs

Große Fans der deutschen und argentinischen Nationalmannschaft

Das Visum hatte ich mir noch vor meiner Abreise in Berlin ausstellen lassen. Die Einreise wurde trotzdem zunächst mit viel Fragerei kompliziert gestaltet, dann jedoch mit der Hilfe vieler mich umringender Menschen gelöst. Ich fiel natürlich als einzige weiße, blonde Frau auf wie ein bunter Hund. In Bangladesch gibt es überwiegend keine Touristen. Die wenigen Ausländer, die es hier gibt arbeiten als Expats, für Botschaften oder NGOs (Non-governmental organizations). Wenn überhaupt kommen Touristen eher im Winter und nicht in der Monsunzeit. Seit einigen Jahren nimmt der Regen in der Monsunzeit deutlich ab. Wenn es regnet, handelt es sich allerdings um (tagelangen) Starkregen und die Straßen und Häuser sind schnell überflutet. An einigen Stellen waten die Menschen durch hüfttiefes Wasser. Die Bangladeschis reden von Chaos auf den Straßen, wenn es regnet. Das noch mehr Chaos überhaupt möglich ist…

Für die Bangladeschis ist man als Ausländer „Bideshi“, denn eins ist klar: man stammt nicht aus Bangladesch – dem Land der Bengalen. Es ruhen immer sehr viele Augenpaare auf einem. Die Menschen sind interessiert an Besuchern und scheinen sich manchmal, wenn sie einen erblicken, geradezu zu erschrecken. Immerzu wird man gefragt, aus welchem Land man kommt. Sobald man nur eine Minute verweilt, ist man umringt von Menschen. Die Bangladeschis sind begeistert von Germany, wollen sich dann über Fussball unterhalten (sie sind große Fans der argentinischen, brasilianischen und deutschen Nationalmannschaften) und kommentieren das Ausscheiden der Deutschen als „Bad luck“, was doch sehr wohlwollend ist.

Stop and Go im Verkehrschaos

Die kleinen grünen Taxen werden mit Gas befüllt

In und zwischen den Städten herrscht eine extrem hohe Geräuschkulisse. Da ich vorher noch nie ein asiatisches Land bereist hatte, war und bin ich besonders mit der Verkehrslage hier ganz schön überfordert. „Eigentlich“ gibt es in Bangladesch einen Linksverkehr. „Eigentlich“ deshalb, weil es keine Straßenverkehrsordnung gilt, sondern das Recht des Stärkeren gilt. Überall sowie kreuz und quer wuselt es von Fußgängern, Rikschafahrern (sie sind alle zu klein für ihre Fahrräder und müssen, um mehr Kraft ausüben zu können, im Stehen strampeln), Taxis, kleine grüne Babytaxis (CNGs), Autos, Bussen und LKWs. Es wird auf der Gegenfahrbahn überholt und gedrängelt, was das Zeug hält. Ein ungeschriebenes Gesetz ist es, niemals den Rückwärtsgang einzulegen, da dir garantiert jemand auf der Stoßstange hängt. Bemerkbar machen sich die einzelnen Fahrzeuge mit hochfrequentem Hupen bzw. Klingeln. Das Hupen und Klingeln ist ubiquitär und nicht wegzudenken. So richtig gut funktioniert das System allerdings nicht, denn innerhalb von Chittagong ist nur ein Stop and Go möglich. Mittendrin befinden sich auf den großen Straßen Polizisten, die den Fahrzeugen mit einem Knüppel auf das Dach hauen, wenn diese den Verkehr blockieren, oder die „Vorfahrt“ nehmen. Ein Rikschafahrer stellte sich sogar einmal bei uns vor, weil ein Polizist ihm mit dem Knüppel auf den Finger gehauen hatte (der Finger war gebrochen und der Rikschafahrer brauchte einen Gips). Die Polizisten werden von den Verkehrsteilnehmern mit Wasser versorgt. Überhaupt geht ihn Bangladesch niemand mit dem Mund an eine Wasserflasche, da es eine Selbstverständlichkeit ist, dass man sich das Wasser teilt.

Das Barfußlaufen im Schmutz ist für die Jungs normal

In den offenen Fahrzeugen ist man den verschiedenen Gerüchen und der Luftverschmutzung direkt ausgesetzt, was bei mir schon nach kurzer Zeit zu Hustenreiz und bei den Bangladeschis durch die Langzeitexposition zu frühem Asthma und COPD (chronisch obstruktiver Lungenerkrankung) führt. Einige, wenige Menschen tragen aus diesem Grund einen Mundschutz. Die vielen Babytaxis werden mit Gas betrieben. Eine Fahrt mit dem Babytaxi innerhalb von Chittagong kostet meist 120 Takka (umgerechnet 1,20 Euro). Die Bangladeschis diskutieren gerne über Preise. Meist gesellen sich auch Unbeteiligte hinzu und diskutieren mit oder hören einfach nur zu. Bangladesch ist auf Platz 7 der Länder mit der höchsten Bevölkerungsdichte. Allein in Chittagong, welches im Südosten des Landes liegt, leben mehr als 2,5 Millionen Menschen. In der unmittelbaren Umgebung der Stadt leben noch einmal doppelt so viele Menschen. Dadurch, dass Kontrazeptiva mit staatlicher Unterstützung für alle Frauen unentgeltlich erhältlich sind, liegt nach Schätzungen der vereinten Nationen die Fruchtbarkeitsziffer mittlerweile bei nicht mehr 7, sondern bei 2,3 Kindern pro Frau. Einige Frauen nehmen keine oder unregelmäßig Kontrazeptiva ein. Schwangerschaftsabbrüche werden für wenig Geld in den Krankenhäusern angeboten und bei ungewollter Schwangerschaft rasch durchgeführt. Längst nicht jede Frau, der ich zur Schwangerschaft gratulieren wollte, zeigte Freude. Eine Schwangere fing sofort an zu weinen und erzählte, dass sie bereits 5 Kinder Zuhause habe. Eine Woche später war sie aufgrund eines chronischen Bluthochdrucks wieder da und hatte bereits abgetrieben. Sie sagte, ihr ginge es gut damit, es sei eh ungewollt gewesen.

Das Land befindet sich in einer außergewöhnlichen Entwicklung und gehört zu den „Next Eleven“ (N-11: Länder mit einem hohen Potential bezogen auf die makroökonomische Stabilität, politische Reife, Offenheit gegenüber Handel und Investment Politik sowie Qualität der Bildung). Weiterhin gehört es allerdings zu den ärmsten Ländern der Welt mit im Jahre 2012 31% der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. In Slums leben viele Familien auf engstem Raum in feuchtem und hygienisch katastrophalem Milieu. Staatliche Müllabfuhren gibt es wenige und nicht überall und das Abwasser läuft in Rinnen durch die ganze Stadt. Diese Rinnen werden auch zum öffentlichen Urinieren genutzt. So viel Müll wie hier habe ich noch nirgends gesehen. Kinder nutzen diesen teilweise als Spielzeug und Tiere als Nahrung.

Korruption in den Krankenhäusern

Die Kinder haben bereits sehr früh eine hohe Verantwortung

Etwa 26% der Bevölkerung ist unterernährt und 46% der Kinder moderat oder schwer unterernährt. Dazu kommt es durch eine sehr einseitige Ernährung zu Eisen- und Vitaminmangel sowie zu Anämien (Blutarmut). Dass ausgewachsene Männer hier 45-50 kg wiegen, ist keine Seltenheit. Vitamin A-Mangel mit Bitot`schem Spot und Hornhauteinschmelzung. Es gibt staatliche Impfprogramme und die Möglichkeit, Kinder im Krankenhaus zu gebären. In privaten wie öffentlichen Krankenhäusern ist genauso wie in Behörden viel Korruption vorzufinden. Die privaten Krankenhäuser nähern sich zwar westlichen Standards an, sind aber für die Normalbevölkerung nicht zu bezahlen. Auch in den öffentlichen Krankenhäusern verbringen die Ärzte die Hälfte ihres Tages mit Privatsprechstunden. Ärmlich aussehende Patienten werden häufig nicht oder halbherzig behandelt, daher müssen sie manchmal von einem Health Worker mit unserer Einweisung begleitet werden. Überhaupt sind die Methoden sehr zweifelhaft und es werden viel zu viele (Reserve-) Antibiotika verschrieben, was zu einer bedrohlichen Resistenzlage führt.

Frauen sind aufgrund von Traditionen und wirtschaftlicher Abhängigkeit in den Familien und bei den Behörden benachteiligt. Bangladesch hat die weltweit höchste Heiratsrate von Mädchen unter 15 Jahren. Armut, Naturkatastrophen, fehlender Zugang zu Bildung, sozialer Druck und Mitgift (die Mitgift steigt mit der Höhe des Alters) begünstigen diese. Kinderheirat ist seit 1929 in Bangladesch illegal und seit den 1980er Jahren beträgt das zulässige Heiratsalter für Frauen 18 und für Männer 21. 65% der Mädchen heiraten jedoch vor ihrem 18. Lebensjahr. Bangladesch gelingt es bisher nicht, das Gesetzt gegen Kinderehen durchzusetzen und von Kommunalbeamten erfahren die Mädchen aufgrund von Bestechungsgeldern keinerlei Unterstützung. Die Premierministerin  Sheikh Hasina hat nun sogar vor, das heiratsfähige Alter von 18 auf 16 herabzusetzen. Wie man gerade als Frau so etwas tolerieren und sogar unterstützen kann, ist mir unbegreiflich. Zudem ist Bangladesch eigentlich Vertragsstaat des internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, der Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau sowie der Kinderrechtskonvention.

Gerade die wirtschaftliche Abhängigkeit der Frauen führt dazu, dass viele durch ihre Ehemänner beigefügtes Leid ertragen. So waren hier in der Ambulanz mehrfach Frauen vorstellig, die von ihren Männern misshandelt wurden. Lediglich eine Frau stellte sich mit Schmerzen in der Hand vor, da sie ihren Mann geschlagen hatte. Ein Fall, der mich noch heute beschäftigt, war eine junge verheiratete Frau mit 2 Kindern, die von ihrem Mann in die Flanke getreten und gewürgt worden war. Sie stellte sich mit so großen Schmerzen und Luftnot vor, dass ich sie in das staatliche Krankenhaus schicken musste. Die Frau verneinte ihren Mann zu verlassen, da sie sonst mit den beiden Kindern mittellos sei. In solchen Fällen fühlt man sich hilflos. Das Leid ist so deutlich zu spüren und die Lage ist aussichtslos. Es gibt zwar Beratungs- und Anlaufstellen für Frauen, die jedoch überwiegend nicht in Anspruch genommen werden. Eine Heirat bedeutet hier Schutz und Perspektive. Beide Attribute sind allerdings ein trauriges, zweischneidiges Schwert.

Achtjährige Tagelöhner

Wäre in der Schule wohlmöglich besser aufgehoben

Mittlerweile liegt die Einschulungsrate in Bangladesch bei ca. 90%. Die Qualität des Unterrichts und die Infrastruktur sind allerdings sehr defizitär. Beides wird durch NGOs wie „Save the children“ besonders auf Dörfern und in Slums verbessert. Es besteht eine staatliche Schulplicht. Auch dieser wird jedoch nicht konsequent nachgegangen, so dass nur ca. 50% der Kinder aufgrund der Armut der Eltern einen Schulabschluss machen. Es gibt staatliche und private Schulen. Die staatlichen Schulen sind zwar kostenlos, enthalten aber viele versteckte Kosten für Uniform und Schulmaterialien, die für viele Familien schwierig bis unmöglich aufzutreiben sind. Eine Mutter stellte mir in der Ambulanz zwei Kleinkinder vor. Alle 3 waren in einem sehr schlechten Pflegezustand, sodass ich bezüglich ihrer Versorgung nachfragte. Die Mutter berichtete, dass sie von ihrem Mann verlassen wurde und nun ein Sohn für die ganze Familie aufkomme. Der Sohn sei 8 Jahre alt, gehe nicht zur Schule und arbeite als Tagelöhner. An jeder Ecke ist Kinderarbeit zu beobachten: sie verkaufen in Bussen die Fahrkarten, arbeiten auf Teeplantagen, Baustellen, Fabriken, Lehmbrennereien, Reisfeldern und vieles mehr. Auch Bildung ist ein Menschenrecht, doch hier wird überall deutlich, dass Menschenrechte hinter dem Existenzkampf zurückstehen.

Durch die frühe Übernahme von Verantwortung wirken alle Kinder viel vernünftiger und gereifter als deutsche Kinder. Sie kommen teilweise alleine in die Ambulanz und tragen ihr Anliegen vor. Viele kümmern sich um kranke oder behinderte Eltern. Sie müssen ihre jüngeren Geschwister beaufsichtigen und Kleinkinder werden teilweise den ganzen Tag alleine Zuhause gelassen, da beide Elternteile oder Alleinerziehende arbeiten müssen, um den Lebensunterhalt zu verdienen. Eine Mutter erzählte unter Tränen, dass sie eines Tages von der Arbeit nach Hause gekommen und das Kind weg gewesen sei. Sie habe es nie wiedergesehen. Die Kinder hier geben keine Widerworte, sind brav, genügsam und ruhig, wenn Erwachsene reden. Die Art, wie Kinder hier aufwachsen, macht Ungehorsam obsolet. Die Kinder hier werden nicht rund um die Uhr verhätschelt. Sie stehen nicht im Mittelpunkt, sondern sind halt Teil einer großen Familie, in der früh jeder seine Aufgabe hat. Trotzdem sieht man auf den Straßen auch viel Kinderlachen und ausgelassenes Spiel. Manchmal begleiten sie einen fröhlich auf Schritt und Tritt, wenn man durch die Straßen geht. Bisher habe ich weder gehört, noch gesehen, dass Kinder von ihren Eltern geschlagen werden. Alle kleinen Kinder tragen die Haare kurz oder geschoren. Kleinkindern wird oft ein schwarzer Punkt auf die Stirn gemalt zum Schutz gegen böse Geister.

In Bangladesch wohnen verschiedene Ethnien mit unterschiedlichen Religionen zusammen. 90% der Bevölkerung sind Moslems. Es gibt viele Moscheen und regelmäßig, mehrmals täglich meldet sich der Muezzin zu Wort und ruft zum Gebet auf. Dann sieht man die Männer in die Moscheen pilgern. Die muslimische Arbeitswoche geht von Sonntag bis Donnerstag. Freitag und Samstag ist Wochenende. Da unsere Ambulanz mit der Caritas als Partner zusammenarbeitet, ist sie von Montag bis Freitag geöffnet, was praktisch ist, da Freitags auch die normalerweise arbeitende Bevölkerung (insbesondere die Männer) vorstellig werden kann. Der Hinduismus ist mit 9% vertreten, der Buddhismus mit 1% und das Christentum mit 0,3%. Hindus haben 13 Feiertage in 12 Monaten und veranstalten, farbenfrohe und musikalische Umzüge auf den Straßen. Die hinduistischen Frauen erkennt man an einem roten Strich auf dem Scheitel und der Stirn. Die religiösen Minderheiten berichten von Diskriminierung z.B. bei Behördengängen. Die Menschen sehen sehr unterschiedlich aus. Viele wie Inder, es gibt aber auch Einflüsse aus der Mongolei, Myanmar, Thailand und auch eine indigene Bevölkerungsgruppe ist vertreten.

Kaum Hilfe für die Rohingya

Eine Überschwemmung ist in Chittagong nichts Ungewöhnliches

Von den Rohingya in Cox`s Bazar bekommt man hier in Chittagong nichts mit. Auch nicht in Cox`s Bazar selber, in dem wir auch ein Wochenende verbracht haben. Die Flüchtlinge aus Myanmar werden hier nicht als Flüchtlinge anerkannt und sind vollkommen isoliert in den Camps. Da dort bereits 64 NGOs vertreten sind und teilweise unkoordiniert aneinander vorbei agieren, haben sich die German Doctors dort nicht zusätzlich eingebracht. Um die Camps zu betreten benötigt man eine special permission vom „Office oft the Refugee Relief and Repatriation Commissioner“. Meine Übersetzerin Nasrin teilte mir auf Nachfrage mit, dass sie von ihrer Regierung erwarte, die Rohingya schnellstmöglich wieder abzuschieben. Entweder nach Myanmar oder nach Indien. Bangladesch selbst sei überbevölkert und die Menschen hätten nicht genug zu essen. Bangladesch habe keine Kapazitäten Flüchtlingshilfe zu leisten. Die Bangladeschis sind den Rohingya gegenüber sehr vorurteilsbehaftet. Heute habe ich bei einem Fall nicht so richtig durchgeblickt. Es entstand der Eindruck, dass die Mutter Informationen zurückhielt. Sie selbst war wohl genährt und das Kind hatte eine schwere Unterernährung sowie Rachitis. Offensichtlich verlässt das Kind das Haus nicht. Später erfuhr ich von anderer Seite, dass die Frau Rohingya ist und sich möglicherweise noch immer bedroht fühlt. Aus den Worten der Mitarbeiter klang heraus, dass sich Rohingya „schlecht“ ernähren würden.

Eine weitere Minderheit bzw. eigentlich „nicht existente“ Bevölkerungsgruppe sind Homosexuelle und Transsexuelle. Auf den Straßen sieht man oft Männer, die Händchen halten, oder den Arm über die Schulter des anderen legen. Dies ist allerdings ein hier völlig normaler Ausdruck von Freundschaft. Homo- und Transsexuelle werden von ihren Familien verstoßen und müssen als Aussätzige leben. Wenn sich Menschen outen, tun sie sich zusammen, gehen betteln und „belästigen“ Ladenbesitzer so lange, bis diese ihnen Geld geben, damit sie verschwinden. Einmal sahen meine Kollegin und ich einen Mann, der als Frau verkleidet und geschminkt war. Solch ein Auftreten wird von den Ladenbesitzern als geschäftsschädigend empfunden.

Rote Mundschleimhäute und Zahnverfall durch Betelnüsse

Wer sich in Bangladesch aufhält, kommt nicht drum herum, sich über die Betelnuss zu wundern. Diese kleine Nuss wirkt stimulierend und sedierend zugleich. Ihre Wirkung lasse sich mit der von Alkohol vergleichen. Sie kann überall legal erworben werden und wird auf verschiedenste Art und Weise konsumiert. Häufig in Form einer Paste. In dieser Paste sind manchmal zusätzlich Tabak, Gewürze und Menthol verarbeiten. Außerdem immer Kalk, der dafür sorgt, dass die Substanz der Betelnuss über den Speichel ins Blut resorbiert wird. Die Paste wird auf das Blatt des Betelpfeffers gestrichen und gekaut. Eine Nebenwirkung der ganzen Geschichte sind irreversible Rotfärbungen von Mundschleimhaut und Zähnen, was ganz gruselig aussieht und was ich anfangs mit Karies verwechselte. Die Betelnuss kann bei dauerhaftem Konsum krebserregend wirken. Das schreckt hier allerdings niemanden ab und die Betelnuss ist unter den Erwachsenen sehr weit verbreitet. Neulich wurde dieses Blatt-Pasten-Gemisch fast durchgehend von unserem Busfahrer gekaut. Die stimulierende Wirkung mag für den Bangladeschi-Verkehr förderlich sein, aber die sedierende wohl eher nicht. Immerhin haben wir die abenteuerliche Busfahrt gesund überstanden.

Vergiftet, tot oder doch nur betrunken?

Die Busfahrt war auch deshalb abenteuerlich, weil wir von der Polizei angehalten wurden. Viele der Mitfahrenden und das Gepäck wurden auf Drogen untersucht. Ganz Bangladesch hat seit Monaten ein großes Drogenproblem („Ya ba“ eine günstige Mixtur aus Methamphetamin und Koffein), welches angeblich von Rohingya aus Myanmar rüber geschmuggelt worden sei. Dies hat bereits zu blutigen Razzien geführt. Auf Drogenschmuggel gebe es in Bangladesch die Todesstrafe , laut eines Mitreisenden. In unserem Bus wurde glücklicherweise nichts gefunden. In diesem Zusammenhang habe ich einen leblos erscheinenden Mann aus dem Auto neben der Straße liegen gesehen. Niemand kümmerte sich um ihn, obwohl Menschen danebenstanden. Ich weiß nicht, ob er intoxikiert, betrunken (Alkohol ist hier verboten), oder tot war.

Die Menschen hier gehen mir sehr ans Herz. Sie sind hilfsbereit, höflich, überwiegend zurückhaltend, fleißig und wahnsinnig tapfer. Unserer Arbeit hier wird viel Dankbarkeit entgegengebracht. Wir arbeiten für diejenigen, die sich keine medizinische Versorgung leisten können. Für die Menschen der Slums. Sie bekommen ein kleines gelbes Buch, in welches Symptomatik, Untersuchungsbefund, Diagnose und Medikation hereingeschrieben werden. Schwangere bekommen zusätzlich ein rosa Buch, in dem die Schwangerschaftsvorsorge dokumentiert wird. Bevor die Patienten ärztlich gesehen werden, erfolgt die Messung von Blutdruck, Puls und Gewicht. Bei Kindern zwischen 6 und 59 Monaten wird zusätzlich der MUAC (middle upper arm circumference) erhoben. Mittels Durchmessers des Oberarms lässt sich der Ernährungsstand eines Kindes schnell und einfach feststellen.

Mittwoch fährt das gesamte Team mit dem CNG in einen nahegelegenen Slum, um dort medizinische Versorgung zu gewährleisten. Dort befindet sich auch ein Ernährungsprogramm, wo unterernährte Kinder dreimal pro Tag eine frisch zubereitete Mahlzeit erhalten, bis sie ihr Zielgewicht erreicht haben. Die Eltern brauchen viel Zuspruch, um sich diesem Programm anzuschließen. Über den Tag muss ein Angehöriger bei dem Kind bleiben. Eine Mutter lehnte das Angebot neulich ab, da sie ihr Kind mit zur Arbeit nehmen muss. Auch Krankenhauseinweisungen werden teilweise nicht wahrgenommen, da andere Familienmitglieder dies nicht erlauben, oder sonst die Betreuung weiterer Kinder nicht gesichert wäre.

Allerlei Krankheiten und Infektionen

Die kleinen Patienten wissen genau, was sie zu tun haben

Wenn man sich oben beschriebene Lebensbedingungen vorstellt wird deutlich, mit welchen Erkrankungen/Beschwerden die Patienten bei uns vorstellig werden. Häufig sind es Rücken-, Gelenkschmerzen oder insgesamt ein muskuloskeletaler Schmerz. Die Menschen arbeiten körperlich schwer, es bleibt keine Zeit für einen achtsamen Umgang mit dem eigenen Körper und Frauen sind aus religiösen bzw. traditionellen Gründen wenig im Sonnenlicht (Vitamin D-Mangel). Dehydratation führt zu Kopfschmerzen und Schwindel. Das scharfe Essen sorgt für Sodbrennen. Nicht selten beschreiben die Patienten einen „all body pain“ oder „general discomfort“. Ibuprofen, Paracetamol, Omeprazol, Eisen, Multivitamintabletten und Entwurmungsmittel verschreiben wir am laufenden Band. Es erfolgt durch die Übersetzer (die nicht nur eine sprachliche, sondern auch kulturelle Brücke bauen und sich teilweise sehr gut mit den örtlichen Hauterkrankungen auskennen) auch viel Beratung bezüglich Ernährung, Hygiene und Rückenübungen. Die Hauterkrankungen sind kniffelig und reichen von verschiedenen Pilzen, Superinfektionen von Wunden, Krätze bis hin zu Allergien.

Wunden an den Füßen behandeln wir meist antibiotisch, da die Bangladeschis in Flip Flops und Sandalen auf schmutzigen, nassen Straßen unterwegs sind und die Wunden sonst niemals heilen. Knochenbrüche sieht man auch nicht selten. Eine Fraktur wurde im Vorhinein von einem Homöopathen für eine Woche mit Blättern und Salbe versorgt und das Kind entwickelte zusätzlich eine schwere Hautinfektion. Homöopathen und lokale Apotheken, in denen man alles rezeptfrei einkaufen kann, sind von den Menschen gefährlicherweise viel gefragt. Sie „diagnostizieren“ Diabetes, Harnwegsinfekte und legen Gipse an, ohne dass ein Arzt konsultiert bzw. viel zu spät aufgesucht wird.

Weitere Erkrankungen, die wir sehen sind Infektionskrankheiten wie Tuberkulose, Hepatitis, Durchfall und Lungenentzündung. Außerdem leiden die Menschen aufgrund der Luftverschmutzung und offenen Feuerstellen im Haus unter Asthma und COPD. Alle 4 Wochen kommen chronische Patienten zu uns und wir stellen den Blutzucker oder den Bluthochdruck ein. Abgesehen von den vielen Wurm- und Pilzerkrankungen (es wird sich mit Kleidung an öffentlichen Wasserbecken gewaschen), ist unsere Arbeit primär hausärztlicher, interdisziplinärer Natur, was sehr viel Spaß macht, aber auch oft traurig macht. Schicksale wie Behinderung, Zustand nach Schlaganfall oder Kinderlähmung kann man weder ändern, noch großartig verbessern. Die Patienten sind auf ihre Familienmitglieder angewiesen und werden in manchen Fällen herumgetragen oder robben auf dem Boden herum. Staatliche Hilfen oder Inklusion gibt es nicht.

Mit wenig Mitteln viel erreichen

Dann doch lieber mit Gummistiefeln

Kinderkrankheiten fallen mir leicht, während ich mich an die erwachsenen Patienten erst einmal herantasten musste. Eine große Hilfe war mir dabei meine Kollegin Laura, die bisher in der Inneren Medizin und Neurologie gearbeitet hat. Jetzt ist Lea, eine Kinderärztin aus Berlin mit mir hier. Außergewöhnliche Tropenkrankheiten wie Malaria oder Dengue habe ich hier bisher noch nicht gesehen. Malariafälle gibt es in Chittagong momentan nicht, lediglich einzelne Fälle in den nahegelegenen Hill Tracts. Man lernt hier mit wenigen Mitteln pragmatisch zu arbeiten, das hat mit Hitze und widrigen Lichtverhältnissen zu tun. Außerdem Patienten, die manche Körperteile nicht entblößen wollen, obwohl sich unter den Tüchern und Stoffen Hauterkrankungen befinden. Diabetes Typ 1 wird genau wie Diabetes Typ 2 behandelt, da Insulin teuer ist. Diejenigen, die doch Insulin haben lagern dieses in Wasser (Insulin gehört eigentlich in einen Kühlschrank). Kinder tragen keine Windeln und pinkeln einem einfach ins Untersuchungszimmer.

Mit meinem psychiatrischen Hintergrund frage ich mich natürlich, ob es hier Menschen gibt, die depressiv, suizidal, psychotisch sind. Wenige psychisch auffällige Menschen sind mir auf der Straße begegnet. Ansonsten hat man hier weder den Zugang, noch die Zeit diesbezüglich eine Anamnese zu erheben. Ich glaube aber, dass Zuwendung und ein offenes Ohr den Patienten sehr viel bringt. Gerade ist Woche 4 angelaufen. Schon jetzt bin ich sehr dankbar für meine Zeit hier. Dankbar, dass ich eintauchen durfte in das Leben dieser Menschen und vielleicht ein bisschen dazu beitragen konnte, dass sie gesehen werden und es ihnen zumindest für den Moment besser geht. Es fällt mir nicht leicht, mich von den Schicksalen hier abzugrenzen und habe immer mal wieder meine Durchhänger. Bei manchen Patienten habe ich den Eindruck gegen Windmühlen zu kämpfen (z.B. Diabetiker, die wochenlang mit einem Diabetes und ohne Medikamente in ihr Heimatdorf fahren und mit einem Blutzucker von 572 mg/dl zurückkommen, oder Schwangere, die keine einzige Vorsorge wahrnehmen). Grundlegend verändern kann man das Leben der Menschen hier nicht, das muss ich mir immer wieder aufs Neue klar machen.