Und dann kam alles anders…

Ein Bericht von Einsatzärztin Dr. Daniela Klein über die Seenotrettung auf dem Mittelmeer

Einsatzärztin Daniela Klein an Bord der Sea-Eye 4 © Hugo Le Beller

Im Oktober 2021 begann die dritte Mission der Sea-Eye 4, für mich als Einsatzärztin von German Doctors war es der zweite Einsatz in Folge. Auch dieses Mal war ich Mitglied im dreiköpfigen „Medics“-Team, zusammen mit Sophie (Intensivkinderkrankenschwester und Medizinstudentin) und Nam (Rettungssanitäter, der kurz zuvor sein Medizinstudium abgeschlossen hatte). Die ersten Tage an Bord waren ausgefüllt mit Kennenlernen der Crew und des Schiffs sowie der Vorbereitung auf die Rettungseinsätze – sowohl innerhalb unsere Medic-Teams (Inventur,  Überprüfung von Medikamenten und Geräten in der „Hospital“ genannten Krankenstation, Training von Notfallsituationen und Arbeit im Hospital im Team unter Berücksichtigung von Stärken und Schwächen jedes(r) Einzelnen von uns), als auch intensives Training – theoretisch und praktisch – mit den anderen Crewmitgliedern (Erste-Hilfe-Training, Abläufe an Deck, Training mit dem RHIB-Team).

Trainieren für den Ernstfall © Nici Wegener

Am Ende dieser Trainingsphase fühlten wir uns im Medic-Team gut vorbereitet auf die bevorstehenden Aufgaben, die zunächst in der Erstversorgung der Geflüchteten nach der Rettung, der Notfallbehandlung und Stabilisierung im Bedarfsfall sowie der erforderlichen Weiterbehandlung während der Zeit an Bord bestehen, daneben aber sollten alle Geretteten einen medizinischen Check-up inkl. Covid-Test erhalten. Um diese Anforderungen zu erfüllen, hatten Sophie, Nam und ich im Team nicht nur die Abläufe trainiert, sondern auch Pläne aufgestellt, wie wir diese Aufgaben gemeinsam bewältigen wollten. Und dann kam alles anders ……

Bereits nach den ersten sechs Rettungen innerhalb von 28 Stunden und der Aufnahme von 397 Geflüchteten waren unsere Pläne hinfällig – Check-ups und Covid-Tests mussten entfallen, stattdessen hatten wir gleich alle Hände voll zu tun mit der Notfall- und Akutversorgung der geretteten Menschen.

Dann kam mit der siebten Rettung – der Aufnahme von ca. 400 Menschen aus einem doppelstöckigen Holzboot, in das bereits Wasser eindrang und das auseinanderzubrechen drohte – die größte Herausforderung für die gesamte Crew und gleichzeitig der schönste Erfolg: in einem schwierigen Manöver gelang es mitten in der Nacht, das seeuntüchtige Holzboot zu stabilisieren und die Geflüchteten direkt vom Boot an Bord der Sea-Eye 4 zu nehmen, und nach Stunden extremer Anspannung war es geschafft – alle waren an Bord und endlich in Sicherheit! Einige der Geretteten bedurften nach drei Tagen und Nächten auf See dringender medizinischer Hilfe, teils aufgrund von Erschöpfung bis zur Bewusstlosigkeit, Unterkühlung, akuter Verletzungen, aber auch aufgrund von psychischer Traumatisierung. Glücklicherweise konnten wir alle Patient:innen stabilisieren, so dass sie nach Überwachung spätestens am nächsten Tag die Krankenstation verlassen konnten. Als großes Glück empfanden wir es, dass die Kinder wie auch die schwangeren Frauen die gefährliche Reise ohne akut ersichtliche Beeinträchtigungen überstanden hatten und dass wir keine Toten zu beklagen hatten oder Leichen bergen mussten.

Sicher an Bord © Hugo Le Beller

Die folgenden Tage waren wir von morgens früh bis spät in die Nacht mit der Versorgung der Patient:innen beschäftigt, die geduldig in einer langen Warteschlange vor dem Hospital anstanden. Beschwerden, die behandelt werden mussten, waren neben Seekrankheit vor allem Hautkrankheiten, „chemical burns“ (Verätzungen durch das Gemisch von Treibstoff und Seewasser auf den Booten), akute Infekte, frische oder ältere Verletzungen als Folge von Gewalteinwirkung, psychische Beschwerden, Panikattacken, auch chronische unbehandelte Krankheiten wie Bluthochdruck, anhaltende Durchfälle und Magenbeschwerden. Zwischendurch kam es auch immer wieder zur notfallmäßigen Versorgung von Menschen, deren körperlicher oder psychischer Zustand sich akut verschlechtert hatte, und zu denen wir gerufen wurden oder die zu uns gebracht wurden. Tatkräftige Unterstützung bei der Arbeit bekamen wir zeitweise von anderen Crewmitgliedern und von Geflüchteten, die Patient:innen zu uns brachten, bei Transporten mit anpackten und sich als Dolmetscher:innen zur Verfügung stellten.

Schwierig war es, inmitten des Trubels den Überblick zu behalten und Patient:innen im Bedarfsfall nachzuverfolgen. So tauchten zwischendurch oder am Ende des Tages immer wieder Fragen auf: Wo ist der Patient, der gestern in schlechtem Allgemeinzustand mit Fieber und Husten hier war, wegen des Verdachts auf Lungenentzündung ein Antibiotikum bekommen hat und heute wiederkommen sollte? – Wir hoffen, er kommt deswegen nicht, weil es ihm besser geht, oder hat er nicht verstanden, dass er wiederkommen muss?

Rettung des überfüllten Holzbootes © Hugo Le Beller

Warum ist die schwangere Frau mit dem erhöhten Blutdruck nicht zur Kontrolle gekommen? – War der Junge mit der eitrigen Wunde am Schienbein nach Verletzung mit einem Schlagstock hier? Ja, glücklicherweise, er kommt jeden Tag zum Verbandwechsel und zu Medikamenteneinnahme, die Wunde sieht ein bisschen besser aus, aber es besteht dringender Verdacht auf eine Knochenentzündung. – Wie geht es dem Mädchen, das immer wieder mit heftigen Panikattacken zu uns gebracht wird? War vorhin wieder hier, Sophie hat sich um sie gekümmert und sie beruhigt, sie hat ihr Vertrauen, jetzt geht es wieder besser – gut, hoffentlich darf sie bald an Land gehen! – Der Junge mit den Verbrennungen an den Oberschenkeln? War da, Nam hat ihn wieder versorgt, die Wunden sehen besser aus, er kommt morgen wieder. – Die Frau, die erst am 2. Tag an Bord zu uns kam mit den schweren Verbrennungen in den Kniekehlen und am Gesäß? Hat sich gemeldet, kommt später zum Verbandwechsel ins Hospital, kann inzwischen wieder ohne Schmerzen sitzen. – Der Junge mit den Schmerzen am Oberschenkel, der nicht gehen kann und von seinen Brüdern gebracht wird? Keine Besserung, bekommt weiter Schmerzmittel, mehr können wir nicht tun, muss an Land weiter diagnostiziert und behandelt werden. – Der Patient mit der Hodenentzündung, der zur Nachschau und zur Fortsetzung der Antibiotika-Therapie kommen sollte? War heute nicht da …. Es ist unmöglich, inmitten der vielen Menschen an Bord einzelne Patient:innen zu finden, und wir hoffen, dass uns niemand „durchgeht“, verlassen uns auf die Aufmerksamkeit der anderen Menschen an Bord.

Behandlung an Bord © Nici Wegener

Trotz des Trubels im Hospital und der wenigen Zeit, die für die einzelnen Patient:innen bleibt, gibt es auch fröhliche Momente und erheiternde Situationen bei der Arbeit, es wird viel gelacht im Hospital. Ganz besonders unsere „Stammgäste“, zwei kleine Mädchen, die mit ihren Eltern vor dem Eingang zum Hospital „wohnen“ und sich bevorzugt bei uns aufhalten, sorgen bei uns und den Gästen für gute Laune! Und ein ganz besonderer Moment gemeinsamen frohen Innehaltens: es ist der Geburtstag unseres Deckmanagers Francis, er wird über Funk an Deck gerufen und bei seinem Erscheinen stehen alle auf und singen zusammen für ihn „Happy Birthday“ – Gänsehaut!

In der Rückschau reihen sich Erinnerungsfetzen aneinander, dabei ist es mir noch immer unbegreiflich, wie es dieser Crew gelungen ist, so viele Menschen zu retten, zu versorgen und in einen sicheren Hafen zu bringen, und welche unglaubliche Disziplin und Moral die geflüchteten Menschen selbst aufgebracht haben, um die Zeit an Bord unter den bedrängten Verhältnissen und nach der vorangegangenen Flucht für alle erträglich zu machen.

 

Die Sea-Eye 4 © Hermine Poschmann

Was bleibt:

Eindrückliche Erinnerungen an die vielen Menschen, die wir in dieser kurzen Zeit an Bord und im Hospital kennengelernt haben, an ihre Leiden, ihre Geduld, ihre Zuversicht und ihre Fröhlichkeit. Das Glück, alle Geretteten in relativ gutem, zumindest stabilem Zustand und sicher an Land gebracht zu haben. Die Zweifel und die Sorge, nicht genug getan zu haben, vielleicht nicht aufmerksam oder geduldig genug gewesen zu sein und nicht allen Patient:innen mit ihren Bedürfnissen gerecht geworden zu sein. Die Hoffnung, dass unseren Patient:innen in Zukunft die medizinische Hilfe,  die sie benötigen und die ihnen zusteht, auch und endlich bekommen, und darauf, dass irgendwann Menschen nicht mehr zur Flucht übers Mittelmeer oder andere lebensgefährliche Routen gezwungen sein werden.

Für mich als Einsatzärztin von German Doctors war es trotz aller Anstrengung eine große Freude, als Mitglied unseres Medic-Teams zusammen mit dieser großartigen Crew bei der Mission dabei gewesen zu sein – und eine Erfahrung, die ich nicht missen möchte!