Schlaflos auf dem Mittelmeer: German Doctor im Dauereinsatz Teil 2

Sea-Eye-4-Crew rettet 406 Menschen in 24 Stunden

Zur besseren medizinischen Versorgung geretteter Bootsflüchtlinge auf dem Mittelmeer kooperieren wir seit Mai diesen Jahres mit der zivilen Seenotrettungsorganisation Sea-Eye e.V. Erster German Doctors-Einsatzarzt auf der jüngst zum Rettungsschiff umgebauten Sea-Eye 4 war der Hamburger Internist Dr. Stefan Mees. Im Gespräch mit unserer Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Chantal Neumann, erzählt er von schönen, aber auch von bedrückenden Momenten während der rund dreiwöchigen Mission.
Unterstützt wird der humanitäre Einsatz der Sea-Eye 4 auf dem Mittelmeer von United4Rescue, dem Bündnis für die zivile Seenotrettung, und der Hilfsorganisation German Doctors.

Neumann: Am siebten Tag auf See haben sie die ersten Flüchtlinge entdeckt. Was ging da in Ihnen vor?

Die Rettung

Mees: Die ersten Flüchtlinge waren zwei Libyer, die wir in einem kleinen Boot 80 Kilometer vor der Küste auffanden – eine eher untypische Situation. Zwei Tage später aber ging es zur Sache: Wir hatten fünf Rettungen in 24 Stunden mit 406 weiteren Menschen. Beim Anblick des ersten überfüllten Bootes war ich fast ungläubig, dass das Szenario Wirklichkeit wird. Dann war nicht mehr viel Zeit zum Fühlen, da viele geschwächte, kranke Menschen an Bord kamen, die wir medizinisch im Hospital versorgen mussten. Das bedeutete: Eine 32-Stunden-Schicht ohne Schlaf, bis endlich alle Geretteten versorgt waren und die Situation stabil und unter Kontrolle war.

Neumann: Gibt es eine „typische“ Rettung, und wie läuft sie ab?

Mees: Typischerweise werden die „boats in distress“, also die Boote der Flüchtlinge, entweder direkt von unseren Crewmitgliedern entdeckt – über Radar oder Ausguck,– oder sie werden uns über Alarmphone gemeldet. Das ist eine Hilfsorganisation, an die sich die Geflüchteten via Mobiltelefon selbst wenden können. Ein Boot wurde uns von den „Pilotes Volontaires“ gemeldet, einem französischen Verein, der mittels seines Flugzeugs „Kolibri“ Flüchtlinge im Mittelmeer ortet. In allen Fällen haben wir sofort Kurs auf die Boote genommen und bei Sichtkontakt unsere beiden Rettungsboote zu Wasser gelassen. Bei den Flüchtlingen angekommen haben unsere Crewmitglieder die verängstigten Menschen beruhigt und erklärt, dass wir ihnen helfen. Nach dem Verteilen der Schwimmwesten wurden die Menschen dann einzeln in die Rettungsboote übernommen und zur Sea-Eye 4 gefahren. Ein Schlauchboot blieb immer bei den Flüchtlingen. An Bord der Sea-Eye 4 wurden die offensichtlich Behandlungsbedürftigen direkt ins Hospital gebracht. Frierende Menschen mit nasser Kleidung erhielten sofort eine wärmende Rettungsdecke, und danach folgte die Registrierung. Übrigens werden im Rahmen eines Securitychecks gefährliche Gegenstände wie Feuerzeuge, Zigaretten und Ähnliches abgenommen, um Zwischenfällen bei Streitereien an Bord vorzubeugen. Beim Verlassen des Schiffes erhalten die Menschen diese Gegenstände natürlich zurück. Schließlich erhielten die Geretteten Müsliriegel, Energieriegel und Wasser, um den ersten Hunger zu stillen, und schließlich Isomatten und Wolldecken bzw. Schlafsäcke.

 

Dr. Stefan Mees an Bord der Sea-Eye 4

Neumann: Während die ersten Geretteten zur Ruhe kommen konnten, ging es für Sie Schlag auf Schlag weiter. Haben Sie zwischen den Rettungen überhaupt schlafen und sich erholen können?

Mees: In den besagten 32 Stunden vom 16. auf den 17. Mai war es uns Crewmitgliedern nicht möglich zu schlafen, wir waren froh über eine halbe Stunde Ruhe und eine Mahlzeit.

Neumann: Das klingt sehr anstrengend. Bei den Begegnungen mit den Flüchtlingen waren Sie in erster Linie als Arzt gefordert. Welche Schicksale haben Sie in dieser Rolle besonders beschäftigt?

Mees: Vor allen anderen ein achtjähriger Junge. Er war wirklich übel dran. Viele der an Bord genommenen Kinder und Jugendlichen waren unterkühlt und ausgetrocknet – dieser Achtjährige aber war schon in einem kritischen Zustand und kreislaufmäßig deutlich beeinträchtigt. Zum Glück konnten
wir ihn mit einigem Aufwand stabilisieren, und zwei Tage später sprang er fröhlich an Deck herum. Bezeichnend fand ich, dass viele Flüchtlinge Schwächeanfälle erlitten, sobald sie bei uns an Bord und in Sicherheit waren. Mit der Erleichterung über ihre Rettung brachen sie erst einmal regelrecht zusammen. Natürlich litten auch viele Menschen an Bord unter Seekrankheit, übrigens auch ein paar Crewmitglieder! Zu meiner Erleichterung waren die vier schwangeren Frauen stabil, aber zwei junge Männer verlangten unsere besondere Aufmerksamkeit. Der eine litt unter einer offenen Tuberkulose, und ein weiterer musste wegen akuter Herzprobleme sogar durch die italienische Küstenwache evakuiert werden. Das lief extrem schnell und professionell ab. Das hat mich gleichermaßen beeindruckt und beruhigt.

Neumann: Und welche Schicksale haben Sie als Mensch besonders berührt?

Mees: Positiv überrascht war ich von den Kindern, die nach zwei bis drei Tagen fröhlich an Bord spielten, Kontakt zu uns aufnahmen und sogar tanzten. Grausam aber war es, von den Erlebnissen vieler Frauen auf der Trans-Sahara-Route und in den libyschen Lagern zu hören: Folter, sklavenähnliche Zustände und Vergewaltigungen waren keine Randerscheinungen, sondern leider „Normalität“.

Neumann: Furchtbar … Konnten Sie den Frauen beim Umgang mit ihren traumatischen Erfahrungen ein wenig helfen?

Mees: Unsere Möglichkeiten hierfür waren extrem begrenzt. Wir konnten den Betroffenen fast nur zuhören, ihnen unsere Betroffenheit zeigen und ihnen eine Rückzugsmöglichkeit in unserem Hospital anbieten, wenn sie sich von dem Trubel an Deck zurückziehen wollten. Es war ja sehr voll an Bord; wir mussten über die Schlafenden steigen, um zum Beispiel ins Hospital zu kommen. Mutmaßlich psychosomatische Beschwerden wie Rückenschmerzen haben wir nur symptomatisch mit Salbe behandeln können. Ehrlich gesagt: Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie so viel schmerzlindernde Salbe einmassiert wie in diesen wenigen Tagen. In diesen Momenten habe ich den Menschen wenigstens ein kleines bisschen Aufmerksamkeit schenken können – und es war deutlich spürbar, dass ihnen das wahnsinnig gutgetan hat. Ich kann nur hoffen, dass die vielen traumatisierten Menschen sehr zeitnah an Land psychologische Hilfe bekommen.

Neumann: Haben Sie mit einigen Flüchtlingen über ihre Träume und über ihre Perspektiven für die Zukunft sprechen können?

Mees: Erst nach einigen Tagen hatten wir so viel Vertrauen aufgebaut, dass einige der Geretteten sich uns geöffnet haben. Viele träumen von einem geregelten Leben ohne Hass und Gewalt, einige träume

In Sicherheit

n vom Studieren – und alle von einem besseren Leben.

Neumann: Das „An-Land-Gehen“ im sizilianischen Pozzallo hat sich über zwei Tage hingezogen. Warum dauerte das so lange, und wie sind die Flüchtlinge und die Crew mit der Situation umgegangen?

Mees: Nach der Registrierung durften Kranke, Kinder, Frauen und unbegleitete Jugendliche recht zügig das Schiff gelassen. Alle wurden dann mittels PCR-Test auf Covid-19 getestet. Wie schon bei den von uns an Bord durchgeführten Schnelltests waren auch diese alle negativ. Die Menschen wurden erkennungsdienstlich behandelt und dann zu einem Registrierungszentrum gefahren. Schließlich mussten sie sich für die notwendige Quarantäne auf eine Fähre im Hafen von Pozzallo begeben. Nach diesem ersten Schwung verzögerten die italienische Polizei, die Carabinieri und Frontex die Prozedur, sodass 141 Menschen für eine weitere Nacht an Bord der SeaEye 4 bleiben mussten. Erstaunlicherweise war die Stimmung gelöst, und es gab keine Probleme an Bord – eher intensivere Gespräche und Kontakte. Besonders schön war der sehr positive und wertschätzende Kontakt mit einigen italienischen Gesundheitskräften. Mir ist klargeworden, dass in puncto Flüchtlingspolitik ein Riss durch die italienische Gesellschaft geht. Die staatlichen Organe blockieren die Rettungen, viele private Initiativen und im Gesundheitswesen Beschäftigte und sicher auch viele andere Italienerinnen und Italiener befürworten und unterstützen sie.

Neumann: Wissen Sie, wie es für die Flüchtlinge weiterging, und haben Sie möglicherweise zu dem einen oder anderen Kontakt?

Mees: Einige Flüchtlinge konnten im Rahmen der Familienzusammenführung weiterreisen, viele wurden in ein italienisches Lager transportiert. Nach den erhaltenen Rückmeldungen war die Behandlung meist nicht sehr freundlich – leider.

Neumann: Gehe ich recht in der Annahme, dass die meisten Flüchtlinge aus wirtschaftlicher Not ihre Herkunftsländer verlassen haben? Das würde bedeuten: Sie werden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit dorthin zurückgeschickt. Was lösen solche Überlegungen in Ihnen aus?

Mees: Bei einer Reihe der Geretteten waren sicherlich wirtschaftliche Gründe mitentscheidend für die Flucht. Aber: Die Wahrscheinlichkeit, bei der Flucht über das Mittelmeer zu sterben, liegt schätzungsweise bei 30 bis 40 Prozent. Ich will sagen: Menschen, die ein so hohes Risiko eingehen, haben sehr triftige Gründe dafür. Mindestens die Hälfte der Flüchtlinge an Bord der Sea-Eye 4 kam aus Bürgerkriegsländern wie Syrien und Mali oder aus totalitären Staaten wie Ägypten und Palästina. Diese Menschen hatten sicherlich andere Gründe zur Flucht als nur wirtschaftliche Not. Bei den betreffenden Personen habe ich Narben gesehen, die vermutlich von Folterungen herrühren.

Neumann: Ich kann mir vorstellen, dass diese Begegnungen noch in Ihnen nachwirken. Umso schöner finde ich, dass Sie gern einen weiteren Einsatz als Schiffsarzt an Bord der SeaEye 4 machen und das Kalkutta-Projekt der German Doctors kennenlernen möchten. Und in der Zwischenzeit? Verraten Sie mir etwas über Ihren Alltag zu Hause in Hamburg?

Mees: Ich bin Rentner und meine Zeit sinnvoll zu gestalten und meine Fähigkeiten sinnvoll einzusetzen. Daher engagiere ich mich ehrenamtlich im Gesundheitsbereich. Ich gebe zum Beispiel Fort- und Weiterbildungen für Dialysepflegekräfte, arbeite aktuell als Impfarzt in Schleswig-Holstein, und ich halte Sprechstunden für Menschen ohne Versicherungen und ohne Papiere ab – unter dem Dach der Diakonie und den Malteser.

Neumann: Bei allen Ihren Betätigungen wünsche ich Ihnen Erfolg und viele bereichernde Begegnungen. Herzlichen Dank für das Gespräch!