Auf engstem Raum

Ein Bericht von Einsatzarzt Prof. Dr. Winand Lange aus Kilifi

Winand Lange mit Kollegen

An einem Sonntag gegen Mittag komme ich mit dem Flugzeug in Mombasa an. Die beiden Mitarbeiter im Projekt, Moses und Edison, die mich pünktlich abholen, versichern mir auf der Fahrt vom Flughafen nach Bomani, dass ausgesprochen wenig Verkehr sei. Die Fahrweise der Verkehrsteilnehmer kommt mir dennoch „etwas“ chaotisch und riskant vor und an den Linksverkehr muss ich mich auch erst gewöhnen. Nach gut einer Stunde Fahrzeit werden wir auf den letzten knapp vier Kilometern auf einer unbefestigten Straße, die mehr aus Schlaglöchern, Bodenwellen und Pfützen besteht, gut durchgeschüttelt. Trotz Nachtflug komme ich hellwach im NCMTC (North Coast Medical Training College), in dem die German Doctors untergebracht sind, an.

Die Umgebung in Kilifi

Einen ersten Eindruck zur Gegend habe ich auf der Fahrt bekommen. Alles ist sehr grün, viele Palmen und dazwischen gestreut immer wieder kleine Lehmhütten, die aus einem engmaschigen Holzgerüst bestehen, in dessen Zwischenräume einfach eine Art Lehm aus dem hiesigen Boden eingefügt ist. Nachdem die Masse getrocknet ist, besteht wohl für die Konstruktion eine gute Festigkeit. Die meisten der Hütten sind nicht größer als vier mal fünf Meter, haben ein Dach aus getrockneten Palmblättern, direkt darunter einen umlaufenden Zwischenraum, der für ständige Frischluft sorgt, und ein bis zwei Fensteröffnungen, die in der Regel ohne Glas sind. Gelegentlich strömt Rauch aus den Hütten, denn es wird dort bei Bedarf auch gekocht, am offenen Holzfeuer. Ein Haushalt wohnt jeweils in einer Hütte; das können fünf Personen, aber auch schon einmal neun Personen sein. So sehen also die typischen Bewohnungen unserer Patientinnen und Patienten aus.

Die Arbeit in der Dispensary, einer Ambulanz des staatlichen Gesundheitswesens in Kooperation mit einer lokalen Stiftung zur Förderung der Gesundheitspflege und den German Doctors, ist abwechslungsreich. Zwei Kurzzeitärzte und ein Langzeitarzt sind dort im Einsatz. Unsere Patienten und Patientinnen kommen oft mit Erkältungskrankheiten, es ist ja trotz 28-30°C gerade Winter und die Nachtemperaturen fallen auf etwa 22°C; dazu regnet es oft, meistens nachts und heftig. Gerade die kleinen Kinder leiden oft unter Fieber, Husten und einer Schniefnase; aber auch die Erwachsenen sind gleichermaßen betroffen. Dazu gesellen sich auch Teens und Twens mit ähnlichen Symptomen, dazu noch Geschmacks- und/oder Geruchsverlust. Einige wenige Schnelltests, die zur Verfügung stehen, bestätigen die Diagnose: COVID-19. Glücklicherweise sind wir Einsatzärzte und auch einige andere Mitarbeiter bereits geimpft. Neben symptomatischer Therapie empfehlen wir „social distancing“; aber was bedeutet dies hier, bei neun Personen auf engstem Raum in einem Haushalt? Keinerlei Kontrollmaßnahmen zur Überprüfung! Immerhin werden von allen Masken getragen! Aber was für Masken? Mindestens wochenalt, wenn nicht die erste und einzige Maske, die eventuell ein großzügiger Arbeitgeber zur Verfügung gestellt hat. Passform, Dichtheit und Handhabung sind Fremdwörter. Wie sollte es auch anders sein bei einem immer noch sehr hohen Anteil von Analphabeten. Von unerwartetem Vorteil ist es hier, dass über 50% der Bevölkerung unter 20 Jahre alt sind, so dass es so gut wie keine schweren Verläufe gibt – zumindest in unserer Gegend. Man spricht auch nicht über Corona, das macht den Menschen eher Angst.

Warten auf die Behandlung

Aber auch andere Erkrankungen kommen vor: Atembeschwerden durch die ständige Exposition zu Rauch beim Kochen, Biharziose, weil die Kinder im nahen Fluss baden und sich dort mit Schistosoma infizieren, immer wieder Wurmerkrankungen und häufig Durchfall. Ganze Familien leiden wegen der häuslichen Enge an Krätze, die vereinzelt durch Kratzen zu großen superinfizierten Hautgeschwüren führt, so dass auch eine Antibiotikatherapie zusätzlich erforderlich ist. Zum Glück hat unsere kleine Apotheke die gut wirksame BB-Lotion wieder zur Verfügung.

„Health Information“ Zelt

Regelmäßige Sprechstunden gibt es für HIV-positive Patienten und Patientinnen, Hypertoniker und Diabetiker, dazu kommen Beratungen für Schwangere, junge Mütter und zur Ernährung. Die Mitarbeiter sind alle zuvorkommend und kooperieren sehr gut mit den Patienten und Patientinnen und mit uns; auch beim Dolmetschen – nur wenige unserer Patienten und Patientinnen sprechen Englisch – funktioniert es meist gut. Probleme gibt es nur, wenn gerade eine Ultraschalluntersuchung durchgeführt werden soll und einmal wieder der Strom ausgefallen ist oder wenn der heftige Regen auf das Wellblechdach prasselt und man sein eigenes Wort nicht versteht. Da ist es schon fast entspannend, wenn mit lautem Knall eine Mango auf das Dach knallt und nach kurzem Schreck alle wieder zum Alltag übergehen.

Auf dem Nachhauseweg zum College radele ich auf dem für mich deutlich zu kleinen Fahrrad durch das kleine Dorf, die Kinder rufen „Jambo“ („Hallo“) und winken freundlich und viele Erwachsene lächeln und grüßen, wenn ich vorbeifahre; nach den ersten beiden Wochen kennt man sich ein wenig; es fühlt sich gut an.

Neben der Arbeit in der Dispensary gehört auch die Lehrtätigkeit im College mit zu unseren Aufgaben. Unter anderem sind wir in den Kursen für Pflege, Klinische Medizin, Chirurgie und Unfallchirurgie und Ernährung eingebunden. In verschiedenen Lehrformen stellen wir fest, dass das theoretische Wissen der Studenten oft ausgezeichnet ist, aber gelegentlich der Bezug zur Praxis bzw. zur Anwendung im Alltag fehlt. Hier liegt sicher für die German Doctors eine Stärke und eine Chance, denn die viele verfügen über jahrzehntelange Praxiserfahrung und können diese oft in anschaulichen Beispielen mit den Studenten teilen und diskutieren.

Mit dem Fahrrad unterwegs

Einmal habe ich die Gelegenheit, Studenten während ihrer praktischen Ausbildung in einem Bezirkskrankenhaus zu besuchen. Wenn man Deutschland in Erinnerung hat, ist dies der Besuch in einer anderen Welt. Auf der „Intensivstation“ liegt eine junge Frau nach einem Motorradunfall mit mehreren offenen Frakturen im Bein und einer Beckenfraktur. Es wird peinlichst darauf geachtet, dass ich die Schuhe wechsele, aber die Kippfenster sind weit geöffnet, um frische warme Luft von draußen hereinzulassen, der Ventilator an der Decke dreht sich und die zahlreichen Fliegen wechseln von Verband zu Verband, von Patient zu Patient. Es ist mehr als bedrückend zu hören, dass sich die Familie der Patientin gerade berät, ob die sicher schnellstmöglich notwendige, aber teure chirurgische Therapie bezahlt werden kann, da kein Versicherungsschutz besteht. Ganz so dringend sei es nach Meinung der Studenten allerdings nicht, da der Chirurg ohnehin erst in der nächsten Woche wieder im Hause sei …

Lehmhütte in Kilifi

Auf der chirurgischen Männerstation wird von jedem Studenten ein Patient vorgestellt, fast ausnahmslos Verkehrs-, meist Motorradunfälle. In jeder Bettenbucht mit einer Größe von etwa sieben mal fünf Metern liegen zwölf Patienten und Patientinnen, sechs auf jeder Seite, ein Zwischenraum zwischen den Betten, der gerade zum Durchgehen reicht. An den Stirnseiten über den Betten hängt jeweils ein kleiner Schrank, der für die wenigen persönlichen Dinge ausreicht; dazu gehört auch das Essen, das die Angehörigen bringen, denn diese sind für die Betreuung und Versorgung zuständig. Eine Privatsphäre existiert nicht.

Als wir wieder mit unserem Kleinbus zurückfahren, bin ich sehr nachdenklich. Unser Fahrer fährt für hiesige Verhältnisse recht zivil, dennoch bin ich keineswegs entspannt. Schon vor der Hinfahrt habe ich ihn gebeten, er möge vorsichtig fahren „Pole, pole …“(langsam, langsam).