Einblick in viele Welten Teil 1

Ein Bericht von Einsatzärztin Dr. Susanne Arendt aus Griechenland

Die Behandlung

Schon lange hatte ich den Wunsch, einen ehrenamtlichen medizinischen Einsatz in Ausland zu absolvieren. Die Wahl fiel letztendlich, auch im Zusammenhang mit der COVID-19 Pandemie, auf German Doctors e.V. und ihr Projekt in Thessaloniki. Die Pandemie hat viele Nicht-Regierungs-Organisationen (NGO) zu Kürzungen oder Unterbrechungen ihrer Programme gezwungen. Ursprünglich ausgewählte Einsatzorte wurden stark beschnitten oder ausgesetzt. Zudem war für mich das Gefühl der „europäischen Nähe“, insbesondere im evtl. Krankheitsfall, ebenfalls wichtig.

Bemalte Wände

German Doctors ist hier seit 2016 tätig, eng verbunden mit der griechischen NGO ARSIS (Association of the Social Support of Youth), die seit 1992 Kinder und Jugendliche in Notlagen auffängt und unterstützt. Bedingt durch die Flüchtlingskrise entstand bei ARSIS ein neuer Schwerpunkt mit der Betreuung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge (UAM). Daraus entwickelte sich, in Kooperation mit
German Doctors, ein neues medizinisches und psychotherapeutisches Projekt. Folgend aus der engen Zusammenarbeit der beiden NGO werden seit Anfang 2021 Menschen versorgt, die keinen Zugang zum griechischen Gesundheitssystem haben. Die deutschen Ärzte (2 pro Team) arbeiten entsprechend eines wöchentlichen Einsatzplans, der sie, je nach Bedarf alleine oder zu zweit, in verschiedene Camps und Kinderheime (Shelter) führt.

Unsere überwiegend diagnostische Tätigkeit ist durch die Sprachbarrieren erschwert und zeitaufwendig, wobei Übersetzer in den häufigsten Sprachen (Farsi, Urdu, Arabisch) weiterhelfen. Therapeutisch steht eine geringe Auswahl an Schmerzmedikation, Magenmitteln und Antibiotika zur Verfügung, alles weitere kann aber bei Bedarf von der griechischen Kollegin bei ARSIS rezeptiert werden. Rezeptfreie Medikamente sind, ähnlich wie in Deutschland z.B. Salben oder Tropfen, preisgünstig in entfernt gelegenen Apotheken zu bekommen, oftmals haben die Geflüchteten jedoch nicht das notwendige Geld.

Einen ersten Einblick bot mir das Camp Vagiohori, ca. 50 km nordöstlich von Thessaloniki gelegen. Bekanntheit erhielt das Camp mit Bildern von tief verschneiten Zelten im Winter 2016/2017. Heute verfügen die meisten Camps auf dem griechischen Festland über Containerunterkünfte, die den Geflüchteten eine einfache, aber funktionelle Unterkunft mit Erhalt ihrer Privatsphäre bieten. Familien leben zusammen, den Kindern wird rasch der Schulbesuch ermöglicht. Verschiedene Sprachkurse werden angeboten, ebenso Unterstützung bei Behördengängen, v.a. den so wichtigen Interviews zur Anerkennung des Flüchtlingsstatus, und Arztbesuchen. Griechische Sozialarbeiter, Übersetzer, Psychologen, Krankenschwestern und Hebammen sind vor Ort tätig, wobei die jeweiligen Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten für Außenstehende nur schwer durchschaubar sind. In Vagiohori
wird aktuell die sog. Safe Zone geschlossen, in der bisher die überwiegend männlichen, unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten (UAM) untergebracht und versorgt wurden. Ihre Zahl ist zurückgegangen und sie können jetzt direkt in Shelter aufgenommen werden. Physisch sind die Geflüchteten beeinträchtigt durch Schmerzsyndrome, die, neben der Überlastung, oft auch sinnbildlich für Erlebnisse auf der Flucht stehen. Sofort therapiebedürftig sind Hautkrankheiten, v.a. Scabies (Krätze), Verletzungen und Wunden. Chronische Erkrankungen, v.a. der älteren Geflüchteten (z.B. Hypertonie), sind bereits gut vorbehandelt, so dass die Therapie fortgesetzt werden kann. (Reaktive) Depressionen finden sich in allen Altersgruppen bei den Geflüchteten, diese werden, so weit es bei den sprachlichen und kulturellen
Barrieren möglich ist, von den Psychologen begleitet.

In den Camps leben viele Minderjährige

Am nächsten Tag waren wir in Diavata tätig, einem Camp im äußeren Stadtbezirk von Thessaloniki (10 km). Kann man überhaupt von „freundlich“ oder „angenehm“ sprechen, treffen diese Adjektive sicher für dieses Camp zu. Die Geflüchteten leben teilweise mehr als 2 Jahre hier und haben sich eingerichtet, was z.B. auch an den Vorgärten zu erkennen ist. Die Stimmung im Camp profitiert auch von der Nähe zu Thessaloniki, das die Geflüchteten per Bus gut erreichen können. In direkter Nachbarschaft findet sich das Haus („Casa base“) des Quick Response Team (QRT), das sich liebevoll um die Betreuung und Schulung von Mädchen und Frauen kümmern. Die ehrenamtlich tätigen jungen Frauen aus ganz Europa spielen, lehren, lernen und lachen jeden Tag mit den weiblichen Geflüchteten. Ihre selbstverständliche große Einsatzfreude tagtäglich ist sehr beeindruckend.

Verband anlegen

Mit Ärzten verschiedener anderer NGO besteht eine gute und enge Kooperation, die griechischen Kollegen sind zwar vor Ort, in ihren Behandlungsmöglichkeiten sind jedoch auch hier stark eingeschränkt. Nachmittags gehen wir in Teams aus Ärzten und Schwestern über das Camp und suchen Patienten in ihren Containern auf. Dadurch erhält man sehr private Einblicke, mit einem strahlenden Lachen oder einer Einladung zum Tee wird große Dankbarkeit erkennbar.

Nach einem Vormittag mit wenigen Patienten im Office of ARSIS stand ein weiterer Schwerpunkt unserer Arbeit an, die Durchführung von Impfungen. Dazu fuhren wir nach Oraiokastro, einem von ARSIS geleiteten Shelter. Das ehemalige Waisenhaus wurde gegen Ende des ersten Weltkrieges gebaut. In dem inzwischen sehr wohlhabenden Vorort siedelten sich während des Griechisch-Türkischen Krieges in den 1920er Jahren griechische Christen an, deren Nachfahren die neue Nutzung des ehemaligen Schulgeländes vorantrieben. Bei der körperlichen Untersuchung einer 17-jährigen Kongolesin fiel mir ein offensichtlich schwangerer Bauch auf, die junge Frau hatte diese Tatsache wohl bisher verdrängt oder nicht realisiert. Familiärer Missbrauch (wohl durch den Onkel) war bekannt, weitere Untersuchungen wurden veranlaßt.

 

Camp Drama

Sehr bedrückend bleibt ein Besuch im Camp von Drama (150 km nordöstlich) in Erinnerung. Trotz Google-Adresse war das Camp zunächst nicht zu finden, da es sich in einer alten Fabrikhalle in einem abseits gelegenen Industriegebiet befand. Die Beleuchtung war sehr spärlich und ausschließlich künstlich, wenige Möbel, wie z.B. kaputte Sofas und Stühle oder auch Tischtennisplatten standen verloren herum. Kaum vorstellbar sind die hygienischen Bedingungen und die damit verbundenen Gerüche in diesen geschlossenen Räumen. Erneut war unser Auftrag die Durchführung vieler Impfungen junger Männer (UAM aus der Safe zone), diese immer sicher zu identifizieren, gestaltete sich teilweise schwierig. Der typische Geburtstag ist der 1. Januar, die Jahreszahl dürfte korrekt sein. Der Name Mohammed erscheint in zahlreichen Varianten, sowohl als Vor- oder Nachname oder auch als Zusatz. Wartend auf die Entscheidung ihres Asylstatus oder die Platzierung in anderen Camps oder Shelter haben wir auch viele kleine Kinder mit ihren Müttern angetroffen. Aktuell wurde dieses Camp wohl geschlossen, so dass
unser läppisch formulierter Satz „Drama ist ein Drama“ Historie ist.

Peace is our gift to each other (Frieden ist unser Geschenk aneinander)

Die längste Distanz fuhren wir in südwestlicher Richtung nach Ioannina (260km). Trotz Starkregens während unseres 3-tätigen Aufenthaltes waren wir hier sehr positiv überrascht, sowohl vom ARSIS-Office wie auch vom Camp in Katsikas. Im Office überraschten uns eindrucksvolle Bilder, die eine Malerin gemeinsam mit den UAM gestaltet hatte. Die Jugendlichen leben hier gemeinsam und unterstützt in eigenen Wohnungen (Semi Indepent Living Project, SIL).

Das Camp in Katsikas ist gut ausgestattet, da auch hier die Unterstützung der wohlhabenden Bevölkerung dieser Gegend umfangreich und anhaltend ist. Allerdings wurde das Camp zuletzt vor mehr als 3 Monaten von einem Ärzteteam versorgt, so dass der Bedarf an Sprechstunden (saisonbedingt v.a. wegen Infekten), Impfungen und Zertifikaten sehr groß war. Der Wunsch nach einer Medikation ist bei den meisten Geflüchteten immer sehr ausgeprägt, da Tabletten (v.a. Pain Killer) auf eine rasche Heilung jeglicher Beschwerden und Traumata hoffen lassen. Erfreulicherweise war die stationäre Einweisung eines Babys mit schwerer spastischer Bronchitis unkompliziert und rasch möglich.

Hier geht es zum zweiten Teil