Es lohnt sich, genauer hinzuschauen
Ein Bericht von Einsatzärztin Dr. Marion Bender aus Kalkutta
Während meines zweiten Kalkutta-Einsatzes im Spätsommer 2018 war es mir möglich auch wieder in allen vier Slum Ambulanzen der German Doctors in Kalkutta zu arbeiten. Es freute mich zu sehen, wie sehr doch die Arbeit der German Doctors besonders in den Randbezirken der Stadt in Anspruch genommen wurde, wo kilometerweit kein Gesundheitszentrum ist oder die Bevölkerung einfach zu arm ist, die staatlichen zu kostenintensiven Gesundheitsprogramme wahrzunehmen. Teils nahmen unsere Patienten stundenlange Reisen auf sich, nur um zeitig genug morgens in der Schlange anzustehen, um von uns behandelt zu werden und unsere Medizin zu bekommen. Einige der Patienten, die bereits schon bei anderen staatlichen Gesundheitszentren waren oder bei örtlichen “Heilern” kamen auch um eine Zweitmeinung von uns zu bekommen. Was uns natürlich einerseits „ehrte“, aber auf der anderen Seite auch etwas ärgerte, weil sie anderen Patienten sozusagen die Zeit stahlen. Dies versuchten wir zu vermeiden.
Täglich werden bei uns die Patienten zunächst entsprechend gestempelt, so dass bei der Behandlung dann erst immer die Kinder und schwangeren Frauen und dann die anderen Erwachsen drankommen. Was die Kinder betrifft, nehmen wir schwierige Fälle eigentlich immer mit zur weiteren Therapie und engeren Überwachung auf unsere der Kinderstation, welche in dem gleichen Gebäude ist wie unsere Kinder Tuberkulose-Station, über welcher wir auch unsere Arzt- Gemeinschaftswohnung haben. Oft gibt es leider immer wieder große Diskussionen, weil die Eltern nicht möchten, dass die Kinder mit auf die Kinderstation genommen werden bzw. ein Elternteil (meistens die Mutter) ja für gewöhnlich immer mit auf der Kinderstation aufgenommen wird. Was natürlich für die häusliche Versorgung der übrigen Kinder zuhause nicht selten ein massives Problem darstellt.
Wo ist denn die Mutter?
An einem Morgen sah ich nun ein Kleinkind ziemlich geschwächt mit Fieber mit über der Lunge lungenentzündungstypischen Abhörgeräuschen mit auch noch wässrigen Durchfällen, so dass ich mich eigentlich umgehend dazu entschied, dass dieser kleine Patient zur Therapie und Beobachtung besser die nächsten Tage auf der Kinderstation untergebracht wäre. Ziel ist meistens, dass die Kinder mit uns Ärzten im Auto zurückfahren, sodass wir helfen können, falls sich ihr Gesundheitszustand unterwegs verschlechtern sollte.
An diesem Tag sahen wir das Kind dann später im Wartebereich vor unserer Ambulanz auf dem Boden liegen, als wir alle anderen Patienten gesehen und fertig waren. Die Mutter war jedoch nicht mehr da – sondern angeblich nach Hause gefahren, um Anziehsachen zu holen. Lediglich eine Frau, die Mutter eines anderen Kindes, was auch auf die Kinderstation aufgenommen werden sollte, saß dort auch auf dem Boden und fütterte gerade ihr eigenes Kind. Mein Patient schien jedoch zu schlafen. Insgesamt wurden wir alle zunehmend unruhiger, weil wir aufbrechen wollten. Hans Peter, unser Kinderarzt kam dann auch dazu und sah sich meinen schlafenden Patienten auch nochmal an und empfahl uns, ihm besser etwas zu trinken und zu essen zu geben, weil er fürchtete, dass der kleine Junge länger nichts bekommen hatte und zu dehydrieren drohte.
Da wir leider keinen Suppenlöffel und auch keine Tasse dabei hatten, boten wir dem Kind den mit Wasser gefüllten Flaschendeckel zum Trinken an. Woraus das Kind dann auch schluckweise trank und auch immer mehr Wasser wollte, ein paar Kekse aß es auch. Unter dieser Therapie wurde das Kind zunehmend wacher und munterer. Unsere zeitweise deutliche Verunsicherung, dass die Mutter vielleicht gar nicht mehr zurückkäme, was dann für uns natürlich eine größere Schwierigkeit dargestellt hätte, weil wir auch keine Einverständniserklärung darüber hatten, dass wir das Kind mit auf die Kinderstation nehmen durften, löste sich dann bald aber auch in Wohlgefallen auf, als diese mit einer größeren Tasche dann doch wieder auftauchte. Auf unserer Kinderstation ging es meinem Patienten dann auch von Tag zu Tag besser und bereits nach knapp einer Woche konnte das Kind zur Freude aller Beteiligten wieder entlassen werden. Für mich hat sich an dieser Stelle gezeigt, wieviel wir Ärzte aus unterschiedlichen Fachrichtungen auch während unserer German Doctors Einsätze lernen können und wie sich doch die Kleinen von den großen Patienten schon manchmal unterscheiden und dass sich auch was Anderes dahinter verbergen kann, wenn ein krankes Kind schläft. Toll fand ich auch wieder zu sehen wie schnell und mit was für einfachen Mitteln man einem offensichtlich wirklich kranken Menschen mit genug Flüssigkeit zum richtigen Zeitpunkt helfen kann.
Die Geschichte der Patienten verstehen
Ein großes Anliegen ist es, dass wir Ärzte für unsere Patientenkontakte während unserer Einsätze auch genug Zeit finden, den sozialen Background unserer Slum-Patienten besonders der Kinder und der Frauen mitzubekommen – eigentlich aller unserer Patienten. Leider gibt es oftmals doch Fälle von mütterlicher Überforderung, wenn zu viele Kinder da sind, es gibt auch Fälle von häuslicher Gewalt, wo uns unsere Hände gebunden sind, weil die Frauen sich nicht trauen zur Polizei zu gehen und auch nicht wissen wie ihr Leben nach einer möglichen Trennung weitergehen soll. So dass diese Frauen doch sehr hilflos und verzweifelt sind. Ich habe auch viele sehr wache Kinder erlebt, die sicherlich von einer weiteren schulischen besonderen Förderung sehr für ihr weiteres Leben profitieren würden, leider auch von früher Kindheit an schwer behinderte, was den Eltern erst Jahre später wirklich auffällt, die natürlich einer besonderen Förderung bedürfen und ich habe leider auch Familien kennengelernt, die wirklich nichts zu essen haben und die nicht wissen wie sie ihre Kinder satt abends schlafen legen können, wo Essens Pakete meines Erachtens auch heute noch wirklich sinnvoll wären.
Sicherlich fällt jedem von uns Ärzten etwas Anderes bei solch einem Einsatz auf, jeder hat sein Augenmerk auf etwas anderes und sicherlich auch eine andere Wahrnehmung. Ich möchte nur alle ermutigen genauer hinzugucken, was sich hinter diesen Augen unserer Patienten für eine Geschichte verbirgt und dann genauer nachzufragen, wenn einem etwas seltsam erscheint und vor allem auch noch weiter nachzufragen, wie man wem denn am besten helfen kann, wenn etwas wirklich nicht stimmt. Sicherlich gibt es genügend Organisationen vor Ort, die sich auch auf andere wichtige Lebensaspekte unserer Slum-Patienten spezialisiert haben und den German Doctors bestimmt gerne in diesen Bereichen aushelfen, wenn dieser nicht in unseren Zuständigkeitsbereich fällt.
Besonders betonen möchte ich aber auch noch die für mich sehr beeindruckende Arbeit, die die German Doctors im Bereich der Tuberkulose Erkennung & Therapien leisten. Ich habe in Kalkutta sehr viele Tuberkulose Erkrankungen anderer Organsysteme neben der uns am meisten bekannten Lungentuberkulose bei Kindern und Erwachsenen gesehen, von dessen äußerst seltenem Vorkommen ich zwar wusste, aber sie in “live” in Patientenform vor mir gehabt zu haben, war schon etwas ganz Anderes. Und die Professionalität und der liebevolle Umgang, mit dem die Patienten auf der Kindertuberkulosestation in unserem Stützpunkt und auf den Frauentuberkulosestationen im St. Thomas Home versorgt werden, haben mich auch sehr beeindruckt. Es würde mich sehr freuen, für tuberkulosekranke Männer hoffentlich auch sehr bald solch ein stationäres Versorgungszentrum in Kalkutta zu sehen, was es leider bisher noch nicht gibt. Ich möchte dem gesamten German Doctors-Team in Kalkutta und auch dem Headoffice für die tolle Arbeit und Zusammenarbeit danken und alle motivieren, weiterzumachen. Das gleiche gilt natürlich auch für all die German Doctors Teams weltweit, die ich (noch) nicht kenne.
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