Hand in Hand mit dem Fremden

Ein Bericht von Einsatzärztin Dr. Ursula Korff-Fox aus Kalkutta

Nach über 30 Jahren Tätigkeit in eigener hausärztlicher Praxis machte ich mich als 65-jährige zum ersten Mal auf zu einer „Arbeitsreise“ in ein, mir in vielen Bereichen unvertrautes Umfeld. Das Ziel hieß Kalkutta: Dort werde ich mich als Arzt einbringen, den ärmsten der Armen helfen. Ständige feuchte Tropenhitze – auch nachts um 30 Grad-, ständiger Lärm, viel Dreck, massive Armut, fremde Kultur mit fremder allgegenwärtiger Religiosität, fremde Tabus und Scham der Patienten, z.T mir nur theoretisch bekannte fremde Krankheitsbilder.

Die einheimischen Mitarbeiter und Dolmetscher helfen bei den täglichen Herausforderungen

Wie gut, dass das über Jahre konstante indische Ambulanz-Team so freundlich, zugewandt, wertschätzend mit mir umging, mir die Hand reichte. Schließlich kam auch ich – wie so viele vor und nach mir- als Neue für nur sechs Wochen ins Team. Die Mitarbeiterinnen sind die primären Bezugspersonen für die Patienten. Die Mitarbeiterinnen sind größtenteils selbst in Slums großgeworden. Sie erhielten über die German Doctors Zugang zu einer beruflichen Perspektive und Entwicklung. Damit erlangen sie mehr Selbstständigkeit und Einfluss – als Frauen, die in ihrer Gesellschaft sonst als schwächstes Glied mit der größten Last leben müssen. Ich erlebte meine Dolmetscherin Jhuma als sehr kompetente und engagierte Fachkraft, die sehr klar, wach, individuell und einfühlsam die für die Patienten gegebenen Möglichkeiten suchte, um ihnen im indischen Dschungel der Institutionen Wege zur Besserung ihrer gesundheitlichen und sozialen Situation zu zeigen. So gibt es z.B finanzielle Unterstützung für Eltern, die schwerbehinderte Kinder (oft ursächlich geburtsbedingte Hirnschäden) pflegen, betreuen, mit Medikamenten versorgen. Die Geburtsurkunde, Atteste, Bankkonto zu besorgen ist für arbeitslose Analphabeten eine große Hürde (Scham, know how, Angst, Ohnmacht, Zeitproblem). Hier konnte Jhuma immer wieder helfen durch Vermittlung von Begleitdiensten zu Behörden oder Ambulanzen, sie gab hier menschliche Begleitung wie ein guter Hausarzt.

Das Leben miteinander teilen

Bevor es losgeht, müssen sich die Patienten erst einen Stempel abholen

Auch in der Sprechstunde war Hand- in Handarbeit unumgänglich, um bei einer körperlichen Untersuchung mehr als nur 10cm Untersuchungsfeld möglich zu machen. Auch Infos zu häufiger körperlicher Gewalt, zu Suchtproblemen bedurften feinfühliger kulturbezogener Übersetzungsanpassung meiner Fragen. Hut ab auch vor den anderen Mitarbeitern, die auf mich alle sehr engagiert und zufrieden in ihrer Arbeit im Team wirkten, individuell und entsprechend ihren Möglichkeiten ihr bestes gaben. Mittags wurde gemeinsam gegessen, in meiner Zeit auch der erste Geburtstag einer Enkeltochter gefeiert. Leben miteinander zu teilen, sich Zeit zu geben, sich gegenseitig zu unterstützen wirkte auf mich in dieser (weitgehenden) Frauentruppe gut gelungen.

Das Entdecken von Tuberkulosekranken, das Vermeiden von weiterer Ansteckung, die Motivation zu und Kontrolle von Therapie z.B bei Tuberkulose wird meines Erachtens in der gründlichen niederschwelligen individualisierten Betreuung mit German Doctors + Team für die Bewohner des Slums (ohne Schulbildung, ohne feste Jobs, ohne Transportmittel) besser gewährleistet als in rein staatlichen Programmen mit sicher weniger Infos und Kontrolle.

Untersuchung eines kleinen Patienten

Das Entdecken von unterernährten Kindern oder fehlernährten Kinder (wichtig besonders in den ersten zwei Lebensjahren) ermöglicht eine Beratung und Therapie, bei uns kostenfrei ambulant oder stationär. Vorsorgeimpfungen und Vitamin- und Mineraliengabe werden sinnvoll in unseren Ambulanzen geleistet und angenommen! Viele ansteckende Hauterkrankungen wie Krätze, Läuse, Pilzerkrankungen, infizierte Ekzeme konnte ich feststellen und behandeln, auch hier ist die Erklärung und Motivationsarbeit zur stimmigen Hygiene usw. nur durch Hand-in Handarbeit möglich, im Wissen um die Möglichkeiten der Patienten. Bei unklaren Hautbefunden konnte ich zuverlässig über Nacht die Hilfe von Heino Hügel, Dermatologe, in Deutschland per Email einholen. Die Schwangerenbetreuung und Motivierung zur Klinikentbindung, die Empfängnisregelung, eine Ansprechstelle für misshandelte Frauen ist bei uns gegeben.

Besser spät als nie

Alte und auch junge Patienten leiden häufig an chronischen Atemwegserkrankungen, Herzerkrankungen, auch schweren Herzfehlern, Schilddrüsenerkrankungen, Diabetes, schweren bakteriellen Infekten, aber natürlich auch Krankheiten wie bei uns. Chronische Beingeschwüre, schlimme Verbrennungen (vermutet oft im Affekt fremdverschuldet), Knochenfehlstellungen durch Vitamin D Mangel oder nicht versorgte Brüche (oft auch arbeitsbedingt) sah ich immer wieder. Dabei hat mich oft erschreckt und erstaunt, wie spät viele Patienten den Arzt aufsuchen trotz Schmerzen, Luftnot und akuter Gefahr.

Frauenpower in Kalkutta- das Team vor Ort

Wir werden dort gebraucht und können helfen. Im Team fühlte ich mich der Aufgabe gewachsen, erlebte die Arbeit als sinnvoll. Meine deutschsprachigen Kollegen und Kolleginnen waren sehr hilfreich im Austausch über das Erlebte und zu Tuende, manche waren aber auch gute Freunde (auf Zeit?) im Gedankenaustausch, bei kleinen und großen Ausflügen, Essabenteuern und Turnübungen auf dem Dach der Wohnung.