In aller Unvollkommenheit „Hilfe, die bleibt“
Ein Bericht von Einsatzarzt Dr. Arndt Dohmen aus Kalkutta
Kalkutta war mein zweiter Einsatz mit German Doctors. Dieses Projekt besteht schon seit 30 Jahren und repräsentiert damit in besonderer Weise die Idee und auch die bewegte Geschichte unserer Organisation. Auf den Vorbereitungsseminaren und auch in mehreren persönlichen Gesprächen hatte ich schon viel gehört und dabei den Eindruck gewonnen, dass Kalkutta ein ganz besonderer Einsatzort ist, wo auch vereinsintern Standards der medizinischen Arbeit entwickelt worden sind, die für andere Projekte Vorbildcharakter haben. Entsprechend groß waren meine Erwartungen, als ich zum ersten Mal in meinem Leben indischen Boden unter den Füßen spürte. Gleich am Flughafen lernte ich Uta und Dankwart Kölle kennen, die für die Entwicklung des Kalkutta-Projektes eine besondere Bedeutung haben, weil sie das Pushpa-Home für tuberkulosekranke Kinder gegründet haben, das für unsere Arbeit vor Ort, wie ich noch erfahren sollte, ein wichtiger Kooperationspartner ist. Weil Familie Kölle von den Kindern der Tuberkulose-Station mit einem einstudierten Empfangsritual besonders herzlich begrüßt wurden, wurde mir als ganz normalem Einsatz-Doktor auch gleich eine wohlriechende Blumenkette um den Hals gelegt, kaum dass ich das Haus von Howrah Southpoint betreten hatte. Eine solche Ehrung wird nicht jedem Neuling zuteil.
Begrüßung und Eingewöhnung verliefen auch sonst sehr unkompliziert und angenehm, denn ich war in dieser Woche der einzige Neue und hatte drei „alte Hasen“ um mich, die mir halfen, mich in der neuen Umgebung zurechtzufinden. Schon den ersten Ausflug in diese riesige und umtriebige Stadt hätte ich ohne die Hilfe meiner beiden Kolleginnen Ina und Nicole wohl kaum geschafft, denn auf den vollgestopften Straßen und bei dem ohrenbetäubenden Hupkonzert, das einen immer und überall begleitet, sobald man die schützenden vier Wände der Ärztewohnung verlässt, bedarf es einiger Ortskenntnis und auch Durchsetzungsfähigkeit, den richtigen Bus zu finden. Und dann gehört auch Mut dazu, sich einem dieser uralten Klapperbusse anzuvertrauen, in denen man nur mit Mühe einen winzigen Stehplatz ergattern kann, wenn man sich mit Schwung in die Menge der Passagiere hineinzwängt, zwischen denen man beim ersten Blick gar keine Lücke erkennt, in der man noch Platz finden könnte. Die alten Hasen hatten da die nötige Gelassenheit, dieses Gedränge mit einem Lächeln zu ertragen, und es dauerte nicht lange, bis auch ich diese Art der Fortbewegung als sportliche Herausforderung genießen konnte.
Eine sprunghafte Eingewöhnungsphase
Bei der Arbeit in den verschiedenen Ambulanzen hatte ich die Rolle des Springers, das bedeutet, dass man nicht dauerhaft einem Team zugeordnet ist, sondern jeden Tag wechselt. Die Konstante bei diesem ständigen Wechsel war für mich Kripa, meine Übersetzerin, die mich die ganzen 6 Wochen begleitete und mit großer Geduld meine überschaubaren englischen Ausdrucksmöglichkeiten ertrug und aufmerksam schon nach wenigen Tagen die meisten meiner regelmäßigen anamnestischen Fragen kannte und diese dann in aller Regel schon ohne mein Zutun stellte. Der kollegiale Umgang miteinander und der regelmäßige fachliche Austausch, den wir abends miteinander pflegten, machten das Arbeiten sehr angenehm, und gleichzeitig gab mir das besonders in der Anfangszeit die Sicherheit, bei für mich unklaren Fragen auch andere Meinungen hören zu können.
Das wertvollste bei der Arbeit in Kalkutta ist aber, dass wir als 6 Wochen-Einsatzärzte immer an der Erfahrung und dem unendlichen Detailwissen von Tobias Vogt teilhaben können, der als Langzeitarzt über inzwischen 16 Jahre für jedes Problem, das uns unlösbar erscheint, einen Weg kennt, mit dem man in den manchmal undurchschaubaren Strukturen des indischen Gesundheitswesens der Lösung näher kommen kann. Wenn man – wie ich als Springer des Öfteren – nicht im Team von Tobias eingeteilt ist, kann man seine Fragen immer auch telefonisch stellen und bekommt dann eine prägnante, stets geduldige Antwort. Nach den 6 Wochen kann ich nur jede Kollegin und jeden Kollegen ermuntern, diese Möglichkeit oft und ohne Hemmungen zu nutzen, denn Tobias gibt seine Einschätzungen und Erfahrungen nur weiter, wenn er auch gefragt wird, spontane Ausführungen über medizinische Themen, zu denen er eigentlich viel zu sagen hätte, sind seine Sache nicht. Sechs Wochen in den Slums von Kalkutta zu arbeiten, eröffnet Einsichten in die Lebenswirklichkeit der indischen Gesellschaft, die einem auf einer touristischen Reise verschlossen bleiben. Während im Hotel Oberroy, dem vornehmsten und berühmtesten Hotel der Stadt, jedes Kind eines Gastes von mehreren Bediensteten gleichzeitig umsorgt wird, robben keine 200 Meter Luftlinie entfernt, andere Kinder mit angeborenen Fehlbildungen oder Lähmungen nach schwerer Krankheit auf allen vieren durch die Straßen und betteln täglich um ihr Überleben, schlafen nachts neben den streunenden Hunden auf den Gehwegen der Einkaufsstraßen und haben in der Monsunzeit kein Dach über dem Kopf.
Per Daumenscan zur Untersuchung
In unseren Ambulanzen unterschreiben mehr als 50% der Patientinnen und Patienten mit ihrem Daumenabdruck, wenn wir ihnen zum Schutz gegen Malaria und Dengue ein Moskitonetz aus Spendengeldern zur Verfügung stellen, weil sie nicht lesen und schreiben können. Den selben Menschen fehlt in ihrer Armut dann auch verständlicherweise die Einsicht, dass zum Ausheilen ihrer Tuberkulose auch dann noch konsequent Medikamente eingenommen werden müssen, wenn sie nicht mehr unter blutigem Husten leiden und wieder ein wenig mehr zu Kräften gekommen sind. Und so entsteht durch diesen eigentlich unverschuldeten Mangel an Therapietreue dieser Ärmsten der Armen das weltweit zunehmende Problem der therapieresistenten Tuberkulose, um deren Behandlung sich Tobias im St. Thomas Home kümmert, wo er nach dem Arbeitstag in den Sprechstunden unseres Projektes als verantwortlicher Arzt Frauen mit teils abenteuerlichen Manifestationen dieser Erkrankung betreut, die sonst keine Aussicht auf Heilung hätten, weil in Indien in aller Regel nur derjenige Zugang zu allen Ressourcen des Gesundheitswesens hat, der dafür auch bezahlen kann. Für die tuberkulosekranken Kinder der Armen gibt es ein vergleichbares Angebot im Pushpa Home, das ein Stockwerk unterhalb der Ärztewohnung in unserem Projekt angesiedelt ist und ebenfalls sehr kompetent von einer indischen Fachärztin für Tuberkulose geleitet wird.
Wer in diesem Land mit den Ärmsten der Armen arbeitet, muss auf schwer erträgliche Grenzsituationen gefasst sein. So gehört es zu den bedrückendsten Augenblicken in unseren Sprechstunden, wenn wir schwer unterernährte Kinder treffen, die durch eine akut aufgetretene Lungenentzündung sehr schnell lebensgefährlich bedroht sind und eigentlich sofort auf einer Intensivstation im Krankenhaus behandelt werden müssten. Die Eltern solcher Kinder verstehen oft nicht die tödliche Bedrohung, in die ihr Kind geraten ist und lehnen oft trotz aller Bemühungen die stationäre Aufnahme ab, weil sie vor stattlichen Einrichtungen wie auch Krankenhäusern eher Angst haben als Hilfe erhoffen und auch eventuell auf sich zukommende Kosten scheuen. Da ist es folgerichtig und sehr wertvoll, dass German Doctors in der Projektstruktur auf diese Erfahrung reagiert haben und neben den Ambulanzen eine eigene Kinderstation auf dem Stockwerk der Ärztewohnung betreiben. Dorthin können wir die schwerkranken Kinder schicken. Ein Fahrer des Teams übernimmt den Transport notfalls sofort und – wenn erforderlich – können Mütter auch die nicht erkrankten Kinder mit auf die Station bringen, damit auch deren Versorgung während der stationären Behandlung gesichert ist. Dieses Angebot nehmen die Eltern der kleinen Patienten eher an, und bei einem auf der Station tätigen hoch qualifizierten Kinderarzt erfahren die Kranken eine Betreuung auf höchstem medizinischen Niveau.
Dramatische Zunahme von Diabeteserkrankungen
Auch wer schon früher öfter mal in Kalkutta gearbeitet hat, wird derzeit in der täglichen Arbeit mit einer erstaunlichen und auf den ersten Blick befremdlichen Neuerung konfrontiert: Seit Oktober schicken wir in größerem Umfang Patienten aus unseren Ambulanzen fort in die umliegenden staatlichen Krankenhäuser. Beschäftigt man sich mit den Gründen für diese Entscheidung aber genauer, so kann man darin das für NGO´s nicht gerade typische Bemühen erkennen, die Sinnhaftigkeit des eigenen Projektes immer wieder zu hinterfragen und neuen Entwicklungen im Einsatzland auch anzupassen. In den letzten Jahren hat nämlich die Prävalenz an Diabetes mellitus in Indien dramtisch zugenommen. Das hat auch in den Ambulanzen der German Doctors zu einem immer höheren Anteil an Diabetikern in unseren Warteschlangen geführt, sodass oft Patienten mit anderen akuten Erkrankungen keinen garantierten Behandlungsplatz mehr bekommen konnten. In den letzten 2 Jahren hat nun die indische Regierung auf diese neue gesundheitspolitische Herausforderung reagiert und ein Programm zur kostenlosen Behandlung von Diabetikern in staatlichen Klinikambulanzen aufgelegt, das inzwischen auch in Kalkutta umgesetzt wird. Auf diese Entwicklung haben die German Doctors reagiert und zurecht die Notwendigkeit der Diabetikerbehandlung in den eigenen Projektambulanzen in Frage gestellt. Und so schicken wir jetzt in einem sorgsam auf mehrere Schritte aufgeteilten Verfahren mehr und mehr Diabetiker in diese staatlichen Sprechstunden. Dass diese PatientInnen aber nicht einfach „abgeschoben“ werden, lässt sich an den einzelnen Schritten des Verfahrens deutlich erkennen: Zunächst werden alle Kandidaten für einen Übergang in staatliche Betreuung in ein eigenes Diabetes-Camp geschickt, wo sie einen ganzen Tag lang eine Diabetesschulung erhalten, damit sie ihre Krankheit besser verstehen und auch in die Lage versetzt werden, selbst verantwortlich damit umzugehen. Erst danach wird der erste Kontakt mit der für den Patienten nächstgelegenen staatlichen Ambulanz in die Wege geleitet. Nach dem ersten Besuch dort sehen wir die PatienInnen noch einmal bei uns und überprüfen anhand der Dokumentation der Klinikärzte, ob die Patienten auch adäquat versorgt werden. Erst wenn dies gewährleistet und von uns überprüft ist, nabeln wir die Patienten dann ganz von uns ab, nicht ohne ihnen mitzuteilen, dass sie wegen aller anderen gesundheitlichen Probleme weiterhin zu uns kommen können. Als ich diese Hintergründe verstanden habe, entwickelte sich aus meinem anfänglichen Kopfschütteln, mit dem ich die verschiedenen bürokratischen Formulare für die Diabetiker ausgefüllt habe, eine Hochachtung dafür, wie verantwortungsbewusst die German Doctors mit Spendengeldern umgehen und ihre eigene Arbeit immer wieder auf den Prüfstand eines kritischen Selbstverständnisses stellen.
Die sechs Wochen meines diesjährigen Einsatzes sind wie im Flug vergangen. Mir hat die Zusammenarbeit in dem motivierten und jedem neuen Einsatzarzt gegenüber immer wieder sehr offenen Team an jedem Tag gefallen. Ich bin an Grenzen gestoßen und dass es angesichts der Armut und ihrer gesellschaftlichen Hintergründe nicht genug ist, was wir hier leisten können, ist mir oft schmerzlich bewusst geworden. Gerade diese Erfahrungen werden mich zu Hause noch lange begleiten. Beeindruckt hat mich besonders, dass in Kalkutta das Motto der German Doctors wirklich umgesetzt wird: es ist in aller Unvollkommenheit „Hilfe, die bleibt“.
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