Tuberkulose: Armutskrankheit No. 1

Ein Bericht von German Doctors-Ärztin Dr. Annette Linz aus Kalkutta

German Doctors käpfen gegen Tuberkulose

Foreshore-Road: Ambulanz der German Doctors und DOTS-Center

„Come, Doctor…“ Salma, eine der Mitarbeiterinnen des Tuberkulose-Programmes, nimmt mich beherzt am Ellbogen: Sie ist den unglaublich dichten und chaotischen Straßenverkehr gewohnt. Wer zögert, kommt nie auf die andere Straßenseite… Und genau dort müssen wir hin, unterwegs zu samstäglichen Hausbesuchen bei Tuberkulose-Kranken im Umkreis der Ambulanz der Foreshore-Road. Salmas Aufgabe ist unter anderem die Therapie-Überwachung, auch erkundigen wir uns nach eventuell ebenfalls erkrankten Mitbewohnern. Tuberkulose gehört weltweit zu den häufigsten Infektionskrankheiten – hier in Indien ist sie die Armutskrankheit No. 1… Die engen und schlechten Wohnverhältnisse der überbevölkerten Slums im Millionenmolloch Kalkutta bieten dem Bakterium ein optimales Terrain zur Verbreitung. Patienten mit diagnostizierter Tuberkulose sollen an einem ihrem Wohnort nächstgelegenen staatlichen DOTS-Center behandelt werden (DOTS steht für Directly observed treatment , short course). Das heißt, sie bekommen dort eine standardisierte, überwachte medikamentöse Therapie.

Große Armut in Indien

Die Umgebung der German Doctors-Ambulanz in der Foreshore-Road: Badeort und Wasch-Stelle am Hooglie-Ufer.

Stundenlang im dunklen Zimmer

Ich folge Salma in immer kleiner werdende Gassen und in dunkle Wohnblocks. Die erste Türe geht erst nach mehrmaligem Klopfen auf. Eine bleiche Frau öffnet, ich erhasche einen Blick in ein fensterloses Zimmerchen mit Holzbank als Bett, darunter einige Kochutensilien. Der erkrankte Vater, den wir besuchen wollten, schläft gerade – er hatte Nachtschicht in einer der angrenzenden Fabriken. Die Tochter möchte eine Schlafunterbrechung ihres geschwächten Vaters vermeiden und tritt zu uns vor die Türe. Salma spricht mit ihr, ich bin erstmal sprachlos und frage mich, was diese junge Frau in diesem dunklen Zimmerchen stundenlang macht, solange der Vater schläft.

Armutskrankheit Tuberkulose

Ein 16-jähriger Patient mit neu diagnostizierter Abdominal-Tuberkulose. Gern zeigt er mir seine medizinischen Unterlagen und erzählt von sich.

Der nächste Patient wartet schon

Gleich um’s Eck wohnt ein weiterer Patient, 16 Jahre alt. Er freut sich über unseren Besuch und erzählt bereitwillig: In seiner „Wohnung“ (ein fensterloses Zimmerchen) wohnt er mit seiner Mutter und seiner Schwester, der Vater ist verstorben. Am Morgen werden die Schlafmatten zur Seite geschoben, gekocht wir vor der Türe.  Es ist so eng, dass man sicherlich nicht ausgestreckt auf dem Boden liegen kann. Diese Wohnung hat die kleine Familie von einem Bekannten gemietet, der sie derzeit nicht bewohnt, da er sich anderswo aufhält. Die Gemeinschaftslatrinen befinden sich einige Meter entfernt, gewaschen wird am Fluss, unweit liegt ja das Hooglie-Ufer. Der Patient arbeitet in einer Textilfabrik, er näht – meist nachts – Verzierungen und Blumen auf Stoffe. Wir bekommen ein MRT des Bauchraums zu sehen. Bei diesem Patienten wurde kürzlich, nach einer längeren Vorgeschichte mit heftigen Bauchschmerzen sowie Übelkeit und Erbrechen, eine Abdominal-Tuberkulose diagnostiziert. Die medikamentöse Therapie wurde begonnen, er verträgt die Medikamente gut. Der Junge wirkt irgendwie zufrieden und voller Elan auf mich, es erscheint mir kurz fast unwirklich, dass er arbeitet, die Familie versorgt, Tuberkulose hat und in dieser derartig engen Behausung lebt. Mit seiner festen Wohnadresse und seinem Job in der Textilfabrik gehört dieser junge Patient bereits zu den Bessergestellten unter den vielen Slumbewohnern. Gerne darf ich Fotos von ihm und seiner Wohnung machen.

Tuberkulose in Indien

In dem kleinen fensterlosen Zimmerchen wohnt der Patient mit Mutter und Schwester. Geschlafen wird auf dem Boden, unter dem Fernseher haben einige Habseligkeiten Platz gefunden.

Kranke Menschen an jeder Straßenecke

Wie häufig Tuberkulose unter den Slumbewohnern ist, merke ich auch daran, wie kurz wir gehen müssen, um den nächsten Patienten zu treffen. Eine Gasse weiter treffen wir an einem kleinen Shop einen Rikscha-Fahrer, ebenfalls Patient. Er hat eine offene Lungentuberkulose. Von Salma erfahre ich, dass der Patient absolut mittellos sei, er könne aufgrund seiner Erkrankung kaum mehr arbeiten und bekomme keinerlei Unterstützung. Der sehr magere Herr wirkt krank und hat keine feste Unterkunft, zurzeit komme er bei Bekannten unter, berichtet er. Sein einziger Sohn sei alkoholkrank und unterstütze ihn nicht. Er will gern fotografiert werden und zieht sogar ein kleines Passfoto aus seiner Jackentasche, welches er mir schenkt. Ich solle es unserem Langzeitarzt, Dr. Tobias Vogt zeigen, der ihn gut kenne und den er wie viele unserer Patienten respektvoll „Dadah“, „großer Bruder“, nennt. Wir halten etwas Small-Talk mit dem Herrn. Das scheint er gerne zu tun, ich glaube, er freut sich, dass sich jemand nach ihm erkundigt und ihm zuhört.

Tuberkulose-Behandlung in Indien

Einer der vielen Rikscha-Fahrer von Kalkutta. Die Armutskrankheit Tuberkulose betrifft hier viele…

Der Kampf gegen die Armutskrankheit geht weiter

Auch Salma ist die Freude anzumerken, dass sich jemand für sie und ihre Arbeit interessiert. Sie entschuldigt sich für ihr Englisch, ihre Eltern konnten ihr keine (teure) englische Schulbildung ermöglichen, sie war auf einer normalen Schule und spricht Hindi und Bengali. Durch den Kontakt zu den German Doctors hat sie aber schon etwas Englisch gelernt. Wir konnten uns jedenfalls gut verständigen. Ich solle doch unbedingt nächsten Samstag in einem anderen Gebiet wieder zu den Hausbesuchen mitkommen… Nachdenklich und beeindruckt mache ich mich mit einem der heillos überfüllten Busse auf den Heimweg in unsere Ärzte-Wohnung.