Mittendrin in den Slums von Kalkutta
Ein Bericht von Einsatzarzt Dr. Bernhard Heeren aus Kalkutta
Die erste Woche im Team der German Doctors ist wie im Flug vergangen. Als Kinderarzt hatte ich doch einigen Respekt vor den angekündigten vielfältigen eher internistischen Erkrankungen, die mich hier in den Ambulanzen in den Slums von Kalkutta erwarten würden. In der Wohnung der German Doctors an der lebhaften Andul Road in Howrah fühlte ich mich jedoch sofort gut aufgehoben, besonders da ich von Dirk, Angela, Susanne, Petra und Johannes wärmstens und unkompliziert ins Ärzte-Team integriert wurde. Während meiner ersten fünf Einsatztage habe ich die ungezwungene kollegiale und gegenseitig unterstützende Teamarbeit als besonders angenehm empfunden.
Viel Freude bereitet auch die durchweg freundliche und hilfsbereite Aufnahme und Begleitung seitens der indischen Ambulanzteams, insbesondere der erfahrenen Dolmetscherinnen (in meinem Fall Esther) von „Howrah South Point“, ohne die unsere ärztliche Tätigkeit hier gar nicht denkbar wäre. In den Ambulanzen in Santoshpur , Foreshore Road, Topsia und Bojerhat erlebte ich nun die ganze Vielfalt der Beschwerden und Erkrankungen der Menschen aus den Busties und Slums von Kalkutta und Howrah, sowie der kleinbäuerlichen Bevölkerung aus dem Umland.
Schwer unterernährte Kinder neben properen Babys mit Infekten, Diabetiker und Hypertoniker jung und alt, Herzfehler, Epilepsien, Tuberkulose in jeder Erscheinungsform, schwer verlaufende Infektionskrankheiten, Rachitis, Augenerkrankungen, eiternde alte Wunden und Geschwüre, Brandverletzungen und vieles mehr. Mit Hilfe von „Medizin in Kalkutta“ und des „Blue Books“ und natürlich im kollegialen Austausch innerhalb des Ärzteteams, gelingt es einem dann aber doch recht gut sich auch als bisher ausschließlich kinder- und jugendärztlich Praktizierender in die Möglichkeiten der medizinischen Versorgung dieser hilfesuchenden Patienten unter den Lebensumständen hier in Kalkutta einzuarbeiten.
Einen Kulturschock brauchte ich nicht erleben, da ich schon im Rahmen der finanziellen Unterstützung einer indischen NGO in Delhi (STOP – Stop Trafficking, Opression and Prostitution of kids and young women ) zwei mal in Indien und mit unseren indischen Freunden auch in Kalkutta war. Das Nebeneinander von Reichtum und bitterer Armut, von Verfall und Neubau, von Slumhütten und Appartment-Türmen, das laute bunte und schrille Chaos des Verkehrs und der Feste, sowie die Gelassenheit und der Gleichmut mit nur gelegentlichen Ausbrüchen von Gerangel und lautem Streit – so begenet einem diese Stadt und lässt einen gleichsam an einem Feuerwerk des urbanen Lebens teilnehmen. Gut, dass mit der Ärztewohnung eine Rückzugsmöglichkeit besteht, wenn einem als ruhegewohntem Mitteleuropäer das hin und wieder zu viel wird. Kinderstimmen aus dem Garten der Kindertuberkulosestation Pushpa Home und der allgemeinen Kinderstation, die im selben Haus untergebracht sind bieten dann freundliche Abwechslung. Aber auch laute Musik von traditionell bis Techno und Rock, sowie Hundegebell aus der Nachbarschaft lassen hier die Ohren meist nicht völlig abschalten. Insbesondere der Gesang des Muezzin über wattstarke Lautsprecher weckt einen manchmal auch schon nachts um 4 Uhr. Leben in Kalkutta – für uns eine Art Rausch für alle Sinne – manchmal irgendwie „irre“
Heute begleiteten einige von uns Medizinern eine Mitarbeiterin der TB-Ambulanz (DOT-Center) in den Elendsvierteln in der Gegend um die Forshore-Road zu Hausbesuchen. Salma Begum, ist eine von den beiden Sozialarbeiterinnen, die regelmäßig die Patienten und ihre Angehörigen beraten und den Therapieverlauf überwachen und die Patienten bei der monate- bis jahrelangen Behandlung „bei der Stange halten“. Es ist sehr beeindruckend die beengten Lebensverhältnisse der Patienten und ihrer Familien in den Busties und im Slum zu sehen und zu erleben, mit welcher Gastfreundschaft man in einer 9 qm-Wohnung ohne Tageslicht, in der bis zu 6 Personen leben, empfangen wird und mit welcher Würde diese Räume gepflegt sind. In den Mietskasernen befanden sich einfache Aborte auf der Etage und Wasser gab es im Hof, wobei es sich hier aber nicht um Trinkwasser handelte. Dieses müsse die Leute von öffentlichen Wasserstellen holen, die teils weiter entfernt sind. Die Slumhütten entlang des Hooghli River hatten in der Nachbarschaft vereinzelt Latrinen. Gewaschen und gebadet wird im Fluss und auch hier sind die Trinkwasserstellen oft viele hundert Meter entfernt. Dennoch kosten diese Behausungen zwischen 350 und 500 Rupien Miete plus 300-400 Rupien für Strom im Monat. Das tägliche Familieneinkommen der Slumbewohner hier liegt, wenn alles gut geht, bei 150-300 Rupien, je nach dem, wie viel Familienmitglieder überhaupt täglich Arbeit finden oder arbeiten gehen können.
Unter der engagierten Arbeit der TB-Center, der TB-Kliniken (Pushpa Home, St. Thomas Home, Howrah Tuberculosis Hospital) und der Hausbesuchsteams lassen sich auch schwere Tuberkulose-Fälle bessern und bei ausreichend konsequenter und vor allem langdauernder Behandlung heilen. Die Hausbesuche und die freundliche Aufnahme durch die Menschen in ihren „Wohnungen“ haben uns ganz besonders beeindruckt. Allerdings hatten wir auch zusätzliche Obstrationen und für die Kinder einige Luftballons als Gastgeschenke dabei.
Die Arbeit der vergangenen Woche in der Foreshore Road Ambulanz war nun für mich schon ein wenig Routine. Immer wieder tauchen in der Sprechstunde auch schwerkranke Menschen auf. Wie ein völlig ausgemergelter 30-jähriger Diabetiker, der wahrscheinlich schon seit vielen Monaten mit Blutzuckerwerten über 300mg/dl herumlief, Augen- und Nierenprobleme entwickelt hatte und den es nun medikamentös einzustellen galt. Seine Erholung wird sicher dauern. Mehrere Malariafälle konnten wir auch diagnostizieren und der Behandlung zuführen. Und es vergeht fast kein Tag ohne neu erkannte Tuberkulose-Fälle. Ein 52-jähriger stellte sich mit einer seit 3 Tagen bestehenden Halbseitenlähmung des rechten Armes und Beines vor. Im Howrah Hospital war er kurz nach Auftreten der Lähmung mit der Diagnose Muskelschmerzen wieder heimgeschickt worden. Der Schlaganfall war nicht als solcher erkannt worden. Gott sei Dank war der Patient noch eingeschränkt gehfähig und konnte auch noch sprechen und essen. Nun wird er bei uns weiter behandelt mit blutdrucksenkenden Medikamenten um zumindest weitere Schäden zu verhindern. Am Freitag nachmittag kam dann noch eine Greisin zu mir mit regional in die Brustwand und die axillären Lymphknoten metastasiertem Brustkrebs und schweren Schmerzen, die schon mit Morphin behandelt wurde. Diese schrecklich geplagte Frau, die von ihrer Tochter gepflegt wird, flehte mich an ihr Gift zu spritzen um sie von ihren Schmerzen zu erlösen.
Ich erhöhte ihre Morphindosis und versprach ihr bei nicht ausreichender Wirksamkeit weitere Möglichkeiten der Schmerztherapie. In dieser Woche war ich auch das erste mal in der Tikia Para Ambulanz. Sie liegt eingeklemmt zwischen einer stark befahrenen Straße und der Bahngleise, die zur Howrah Station führen. An der einen Seite fügen sich windige Slumhütten in diesen Geländestreifen ein auf der anderen Seite existiert eine Art Abfallsortierplatz. Auf der anderen Straßenseite finden sich ausgedehnte Busties. Hier fallen mir gleich in der früh beim Stempel-Ritual für die Wartenden eine Mutter mit 2 winzigen Zwillingsbabies auf. Ich nehme sie gleich als erste dran. Die 3 Wochen alten und „Gott sei Dank“ bis auf Mundpilz gesunden Jungen wiegen keine 1500 g und haben seit der Geburt wohl auch nicht zugenommen. Die Mutter ist erst 17 Jahre und bemüht sich ihre Jungs zu stillen.
Ich kann sie beruhigen, dass sie nicht ernsthaft krank sind und biete ihr und ihrer Schwiegermutter an sie mit den Kindern auf unsere Kinderstation aufzunehmen. Sie wirkt über dieses Angebot erleichtert und mithilfe unserer Mitarbeiter wird auch der Vater informiert und ist dann am Nachmittag mit von der Partie, als wir die ganze Familie auf der Heimfahrt in unserem Ambulanzauto mitnehmen. Nun können die Winzlinge erst mal in Ruhe „aufgepäppelt“ werden. Es gibt noch viel zu tun in den Armenvierteln von Kalkutta…
Schreiben Sie einen Kommentar