Eine Flucht in das Reich der Illusionen
Trostlose Slums in Indien: Zweiter Teil des Berichts von Einsatzarzt Dr. Frithjof Leonhardt aus Kalkutta
Indien schleudert mich mit seinen krassen Gegensätzen immer wieder in eine Berg- und Talfahrt der Gefühle. Das hängt auch damit zusammen, dass wir heute in der Ambulanz von Tikia Para arbeiten. Im Zentrum von Howrah, inmitten eines ständigen Verkehrschaos‘, liegt dieser Standort zwischen zwei großen, meist muslimischen Slums in der Nähe des Hauptbahnhofes. Eine marode und wirklich verkommene Örtlichkeit – wie eigentlich alle Slums in Indien. Angesiedelt inmitten von unendlichem Unrat in einem schmutzigen Gewerbegebiet, umtost von kaum erträglichem Verkehrslärm und ständigem Gehupe. Neben unserer „Behandlungshütte“ ein Areal, auf dem bengalische Arbeiter mit Sieben aus dem hier angefahrenen,schmutzigen Schlamm noch Edelmetalle heraus filtern, wie uns gesagt wird. Wir können es kaum glauben, dass sich das in irgendeiner Weise noch lohnen könne. Insgesamt ist der Lärm an diesem Ort so groß, dass zeitweise (wenn z.B. gerade ein Güterzug vorüber donnert) das eigene Wort nicht mehr zu verstehen ist, geschweige denn, dass Lungen- und Herzgeräusche oder Blutdruckwerte zu hören wären.
Wir helfen, so gut wir können
Die Slums in Indien sind aber nunmal unser Arbeitsplatz: Heute werde ich mit fünf Schwangeren, einer mit einer RHESUS Negativität und einer mit einer autoimmunen Schilddrüsenerkrankungen und weiteren Raritäten konfrontiert, die mir etwas den Schweiß auf die Stirn treiben, da Beratung und individuelle Therapie dieser Patienten Zeit erfordert, die wir eigentlich nicht haben. Es bleibt der Druck, die hohe Zahl der Patienten abzuarbeiten, die – oft von weit her kommend – seit dem frühen Morgen auf uns warten. Dazu kommen immer wieder Versuche, der zähen indischen Bürokratie zu widerstehen: Wir möchten die oft lese-und schreibeunkundigen Patienten auf bestehende und ihnen zustehende staatliche Hilfsprogramme aufmerksam machen und ihnen Wege aufzeigen, wie sie dem Moloch indischer Bürokratie doch noch ein Schnippchen schlagen können, um endlich – oft erst nach Monaten und Jahren – an die Leistungen zu kommen, die ihnen (von Staats wegen) zustehen. Aber bei Müttern mit erheblich geistig oder körperlich behinderten Kindern oder Jugendlichen, die staatliche finanzielle Hilfe für aufwendige Herzoperationen benötigen, lohnt sich dieser Aufwand! Abends sind wir geschafft. Nervige Heimfahrt bei Smog, permanentem Verkehrsstau und ungebrochener Lärmkulisse. Ich steige mit einer Kollegin auf halbem Wege aus, um in der feschen Awami Mall noch etwas Kaffee und Tee einzukaufen. Ein modernes, aber für unsere Begriffe reizloses Einkaufscenter. Am Eingang bereits Kontrolle und body check: Man könnte ja eine Bombe einschmuggeln wollen. Aber vielleicht ist es auch eher die Absicht, die Mühseligen und Beladenen der indischen Gesellschaft von diesen Konsumtempeln westlichen Stils fernzuhalten?
Westlicher Lebensstil auf dem Vormarsch
Als ich im Lebensmittel-Bazaar vor Eintritt auch noch meinen Rucksack abgeben soll, streike ich und lasse die Kollegin allein einkaufen. Die Mall scheint ein Lieblingsobjekt des indischen Mittelstandes zu sein, der sich auch statistisch gesehen ausbreitet, und der alles Westliche erst einmal hip findet. Auch das indische Publikum ist hier meist westlich gekleidet. Nicht zu übersehen ist allerdings auch, dass über allem ein diskreter Hauch von Vernachlässigung und Dysfunktion hängt. Viel herumstehendes Personal mit unklarer Funktion. Es werden Bedürfnisse nach einem westlichen Lebensstil geweckt, die in dieser Stadt und Umgebung fast grotesk wirken. Aber auch das ist eine Facette Indiens: Es werden Illusionen geweckt wie ungedeckte Schecks, die für die meisten hier selten oder nie eingelöst werden. Zumindest nicht für die breite Masse der Habenichtse, mit der wir German Doctors es tagtäglich zu tun haben. Aber vielleicht ist das Leben nur so aushaltbar hier, kommt mir in den Sinn. Vielleicht ist dies der tiefere Sinn aller Bollywood-Filme: Sich aus einer für uns erschreckenden Realität hinaus zu träumen in das schönere Reich der Illusionen? Ich lasse diese Möglichkeit einstweilen offen; denn die Wirklichkeit in den Slums in Indien ist tatsächlich kaum auszuhalten…
Die Aufgaben und Arbeitsbedingungen der German Doctors sind nur noch „übermenschlich“ zu nennen! Dieses Beispiel zeigt es!!