Eine herzerwärmende Lebhaftigkeit

Freiwilligenarbeit im Ausland: 1. Teil des Berichts von Einsatzarzt Dr. Frithjof Leonhardt aus Kalkutta

Heute geht es mit der Bahn von Kalkutta in das  fünf Bahnstationen weiter nördlich gelegene Chengail, ein in satter, grüner indischer Landschaft gelegenes Dorf – noch relativ sauber für indische Verhältnisse –, wo die German Doctors  an einem kleinen baumbestandenen Platz mit Gandhi-Statue und Waschplatz zweimal wöchentlich eine Ambulanz aufbauen. Wir drei deutschen Ärzte leisten Freiwilligenarbeit im Ausland und behandeln in einem kleinen Gebäude, bestehend aus drei  Zimmern, die jeweils mit einem Tisch und einer Untersuchungsliege ausgestattet sind und nach außen gegen zudringliche Blickt mit einen Stofffetzen abgeschirmt sind. Sie wurden erst kürzlich  frisch gestrichen und mit Blumen und Bezeichnungen wie „Doctors Chambers 1 – 3“ verziert. Eine nette Geste des Dankes an uns. Die Luft ist hier erträglich, die Sonne scheint und der Himmel – mit einigen Wölkchen besprenkelt – ist fast blau. Ganz anders als in unserer Unterkunft in der Millionenstadt Howrah, wo ich die Sonne morgens als einen dunstigen, orangenen  Ball emporsteigen sehe, der sein Strahlen durch die ständige Smog-Glocke über der Stadt fast eingebüßt hat.

Freiwilligenarbeit im Ausland

Morgendliches Registrieren unserer Patienten in Kalkutta

Die Patienten warten schon

Auf dem Platz zwischen den Gebäuden wartet schon eine bunt gekleidete Menge von Patienten erwartungsvoll auf uns. Aufmerksame Blicke und zaghafte Begrüßungen hier und da. Die Lebhaftigkeit und Farbigkeit der Menschen erwärmt uns zusammen mit der Morgensonne das noch etwas morgenkühle Herz! Wir gehen durch die Reihen der sich in drei Warteschlagen aufstellenden Patienten, stempeln sie auf Hand oder Unterarm: Zuerst die kleinen Kinder mit ihren Müttern, dann die Männer und dann die Frauen. So will es die indische Tradition. Wir spähen mit scharfem Auge aus nach offensichtlichen Notfällen in den Reihen und setzen diesen eine rote Kappe auf. Das will sagen, diese Patienten haben bei der nun gleich beginnenden Sprechstunde das absolute Vorfahrtsrecht.

Abgestempelt zur Behandlung

Die Methode des Stempelns hat sich bewährt, um sich gegen Vordrängler zu wehren. Nicht verhindern können wir selbst ernannte „Ordner“, die – durch kleine Geldsummen bestochen – Patienten versuchen, nach vorne zu schleusen. Heute stempeln wir 120 Patienten, die im Rahmen unserer Freiwilligenarbeit im Ausland dann im Laufe des Tages versorgt werden müssen. Unser Langzeitarzt in Kalkutta ist heute dabei und arbeitet mit. Das ist beruhigend, da er die indischen Verhältnisse bestens kennt und uns in schwierigen Situationen praxisnah und zügig beraten kann. Heute morgen lässt sich alles recht ruhig an: Keine kleineren oder größeren medizinischen Katastrophen oder Dramen. Nicht so wie erst kürzlich erlebt, als wir morgens als erstes einen stöhnenden, auf dem Boden liegenden Mann mit auswärts gedrehtem rechten Bein vorfanden, der vermutlich eine Oberschenkelhalsfraktur hatte. Oder die Frau, die sich bei schwerster, akuter Atemnot kaum noch auf den Beinen halten konnte und von ihren Angehörigen hereingetragen wird. Heute sehen wir dagegen viele chronische Erkrankungen wie Diabetes, chronische Lungenerkrankungen, Bluthochdruck, Kinder, z.T. unterernährt,  mit Bronchitiden und Durchfällen. Hin und wieder ein Tuberkulose-Verdacht, Schilddrüsenerkrankungen oder Schwangere. Zahlreich sind auch Patienten mit Pilzerkrankungen der Haut, Läusen oder Krätze, was meist auf mangelnde Hygiene zurückzuführen ist.

Kuh auf Straße

Kein seltenes Bild in Indien: Kühe auf der Straße

Die Arbeitstage sind lang

Mittags eine halbe Stunde Pause. Zum Mittag gibt es zwei Chapatis (runde Mehlfladen in Fett gebacken) und zwei Bananen. Eine Mitarbeiterin hat uns noch ein Stück Christmas Cake  (einen englischen Tea Cake mit Rosinen und Zitronat) gestiftet. Wir tauschen uns beim Essen über medizinische Probleme oder „Problemchen“ aus: Was lief gut und wo machte uns die auf basismedizinische Versorgung ausgelegte Versorgung der Patienten diagnostische Probleme. Wo bräuchten wir eigentlich dringend eine Computertomographie, um diagnostisch weiter zu kommen, wohl wissend, dass sich das Budget der Organisation eine derartig aufwendige  Diagnostik kaum leisten kann. Danach geht es kontinuierlich – d.h. Patient folgt auf Patient – weiter bis um 16 Uhr. Nur knapp unterbrochen durch einen Schluck heißen Chai Tee, der in winzigen Tonkrüglein herein gereicht wird. Da wir heute flott gearbeitet haben und mit den Patienten gut im zeitlichen Rahmen geblieben sind, können wir sogar noch einige Frauen nachstempeln, die sonst leer ausgegangen wären und Ende der Woche hätten wieder kommen müssen. Mehr geht dann aber wirklich nicht, weil der Nachhauseweg lang ist und unsere indischen Mitarbeiterinnen noch ihre Familien abends zu versorgen haben. Ein wirklich langer Arbeitstag, der für die Meisten morgens um 6 Uhr beginnt und abends erst gegen 18-19 Uhr beendet ist. Auf der Heimfahrt nehmen wir in unserem  Kleinbus noch einen Jungen samt Eltern mit, der stationär auf unserer Kinderstation weiter behandelt werden muss. Wir sind froh, dass uns das gelungen ist, denn es war nicht ganz einfach gewesen, die Eltern von dieser Notwendigkeit zu überzeugen.

Die Freiwilligenarbeit im Ausland kostet Kraft

Warten auf den Doctor

Die Patienten warten auf den German Doctor

Die Rückfahrt über eineinhalb Stunden im indischen Feierabendverkehr gerät fast zur Belastung: 20 Minuten warten vor einer Bahnschranke, dann ein nicht enden wollender Verkehrsstau bei fast unerträglichem Smog. Teilweise schlafen wir ein, ich wage nur ganz flach zu atmen, da sich eine bronchitische Reizung deutlich anbahnt. Endlich sind wir bei kompletter Dunkelheit in unserer Unterkunft angekommen. Zunächst gibt es einen Tee, danach muss die gefühlte Staubschicht abgeduscht werden. Gegen 19 Uhr gemeinsames Abendessen am großen Tisch mit den weiteren drei Kollegen, die ebenfalls von ihrem Tageseinsatz zurückgekehrt sind: Heute gibt es Reis, die in Indien unvermeidlichen Chapatis, ein scharf gewürztes Blumenkohl-Gemüse und zum Nachtisch Obstsalat aus Äpfeln und Mandarinen garniert mit Granatapfelkernen. Es ist wirklich ein Luxus zu nennen, dass die – auch in der Küche in farbige Saaris gehüllte – Küchenladies für uns so gut vorgesorgt und gekocht haben. Wir reden über die uns manchmal rätselhafte indische Mentalität, die bemerkenswerte Würde, die hier auch den ärmsten Riksha-Fahrer auszeichnet und die auffälligen national-hinduistischen Bestrebungen des indischen Ministerpräsidenten Modi, der ausländische NGOs ungern im Land sieht. Danach ist Privatheit angesagt und rasches Einschlafen auf den harten indischen Baumwollmatratzen, um für den nächsten Tag meiner Freiwilligenarbeit im Ausland wieder fit zu sein…