Indien: Land der Gegensätze

Ein Bericht von Einsatzarzt Dr. Rudolf Kappes aus Kalkutta

Hier in Kalkutta wundert mich immer wieder die relativ klaglose Akzeptanz des Gegebenen. Religion, nationale Historie, Kastenzuweisung, geschlechtsbedingte Unterdrückung, Lebensbedingungen , alles das sind Faktoren, für eine verstehende Analyse bin ich aber viel zu kurz vor Ort. Indien ist ein Land der Gegensätze, das sich im Übergang von einem Entwicklungsland zu einer wirtschaftlich etablierten Nation befindet. Es gibt Landesteile und Bevölkerungsgruppen, deren Lebensbedingungen immer noch und kontinuierlich unterhalb der Menschenwürde liegen. Aber die Wirtschaft des Landes boomt und ein größer werdender Teil der Bevölkerung profitiert erkennbar vom wirtschaftlichen Aufschwung. Dennoch gibt es in Indien immer noch hunderte Millionen (Gesamtbevölkerung liegt bei 1 Milliarde, jeder 6. Mensch ist ein Inder!) Analphabeten, aber daneben auch immer mehr exzellent ausgebildete Experten, die überall in der Welt gefragt sind.

Dr. Rudolf Kappes

Dr. Rudolf Kappes im Einsatz

In einer Stadt wie Kalkutta leben die Menschen der armen, der mittleren und der gut gestellten sozioökonomischen Schicht Tür an Tür. Sie stören einander nicht und sie helfen einander nicht. Die öffentliche Sozialfürsorge, sei es im gesundheitlichen, im schulischen oder in anderen Bereichen, ist traditionell schwach. Gemäß allgemeinem Dafürhalten liegt die Fürsorgepflicht für schwache Individuen bei der Familie des Betroffenen. Gegen die Armut, die immer noch weite Teile der Bevölkerung betrifft, soll nach Ansicht der Regierung vor allem der Wirtschaftsaufschwung Abhilfe leisten. Die Zivilgesellschaft ist sozial bemerkenswert inaktiv. Ob dies vor allem an dem alten Glauben liegt, dass jedem Menschen sein Schicksal zugewiesen ist und es nicht gut ist, daran etwas zu ändern, oder an einer Kapitulation vor den schier unlösbaren Problemen dieser gigantischen Zahl von Menschen, bleibt dem europäischen Betrachter verborgen. Im Mikrokosmos meiner Ambulanz sehe ich schon die Ergebnisse einer langjährigen Beratung: Der Kinderwunsch ist zurückgegangen, maximal 3 Kinder sind das Ziel. Familienplanung wird umfassend akzeptiert.

Indien ist ein Land der Gegensätze

Indien ist ein Land der Gegensätze

Zum medizinischen Bereich ist generell zu sagen, dass grundsätzlich jeder Kranke so viel Hilfe finden wird, wie er Bargeld auf den Tisch legen kann. Ein öffentliches Krankenversicherungswesen steckt noch in den Kinderschuhen und deckt ambulante Vorstellungen und Behandlungen grundsätzlich nicht ab. Man muss zugestehen, dass eine öffentliche Krankenversorgung für 1,2 Milliarden Menschen, von denen die allermeisten keine Steuern oder Beiträge zahlen, eher eine Wunschvorstellung von in Deutschland Aufgewachsenen, als eine realistische Option für Indien sein kann.

Hautausschlag

In den Slums sind Hautausschläge an der Tagesordnung

In Kalkutta ist die gesamte medizinische Infrastruktur grundsätzlich vorhanden. Man findet hier für jede medizinische Subspezialität Experten von internationalem Rang und dazu Krankenhäuser, die zu jeder diagnostischen und therapeutischen Maßnahme in der Lage sind. Und wieder wir deutlich, dass Indien ein Land der Gegensätze ist: Denn diese Behandlung gibt es natürlich nur gegen entsprechende Bezahlung – alle anderen müssen draußen bleiben, und das sind rund 90% der Bevölkerung. Es gibt bestimmte typische Krankheiten dieser sozial Schwachen. Diese Krankheiten resultieren aus den unhygienischen und extrem beengten Lebensverhältnissen der Slumbevölkerung, aus Mangel an ergiebigen Nahrungsmitteln, aus mangelndem Grundwissen und aus einem Mangel an medizinischen Vorsorgeleistungen. Und das ist ja der Ansatz „meines“ Feeding-Programms: Vorsorge, Begleitung, Substitution, Beratung, Kontinuität. Immer wieder der Begriff des Tropfens auf den heißen Stein. Besser wir nennen es Philanthropie/Agape/Nächstenliebe, je nach Credo.

Kinderarmut in Indien

Viele Kinder gehören zu unseren Patienten

Die konkreten Umsetzungen lauten:

  • Werden alle Neugeborenen und Säuglinge gestillt? Wird das 6 Monate lang beibehalten? Wann beginnt die Beikost-Fütterung?
  • Haben alle Kinder die notwendigen Impfungen (via staatl. Gesundheitseinrichtungen) erhalten? Das Impfwesen funktioniert beispielhaft!
  • Erhalten alle Kinder genügend Vitamin A, Eisen und Zink ? Werden alle Kinder regelmäßig entwurmt?
  • Fällt ein Kind aus der Wachstums-Normalverteilung heraus? Erreicht es bestimmte Entwicklungsschritte zu spät oder gar nicht? Warum nicht?

Wir 7 Kollegen/innen im Zentrum pflegen einen stets freundlichen/fröhlichen Umgang, ganz ohne Ärgerlichkeiten. Wir werden von 4 Köchinnen versorgt, es schmeckt und dazu „braucht´s“ ein abendliches Bier. Morgen ist der letzte Arbeitstag, eine Mischung von Noch-Präsenz und Abschied. Die Rückkehr nach Deutschland wird mir ja wohl mit den aktuellen subtropischen Temperaturen gut gelingen. Hier in Bengalen wechseln sich feucht-heiße Tage mit nass-heißen Tagen ab, im Monsun ist nur der Ganges nasser als die Straßen.

Die Kluft zwischen Arm und Reich ist riesig

Die Kluft zwischen Arm und Reich ist riesig

Ich habe das Gefühl, in diesen Subkontinent mit über tausend Millionen Menschen nur 1 Sekunde hineingeschaut zu haben. Zwar ist die Arbeit hier eine Chance, das Leben – nicht nur ihre Krankheiten – der so belasteten Menschen nah zu erleben. Aber Indien bleibt mir als Europäer doch fremd: Das klaglose Akzeptieren des Gegebenen, der Minderwert von Frauen und Mädchen, die tiefe Religiosität mit mir unverständlichen göttlichen Gnadens- und Unheil-Versprechen, die agressionsfreie (!) Rücksichtslosigkeit im Verkehr, eine grundsätzliche Freundlichkeit uns Fremden gegenüber (im Bus muss ich manchmal nicht mehr zahlen, weil die Schaffner mich auf dem Weg in den Slum kennen), Lärm ohne Grenze in Dezibel und Tageszeit, die insuffiziente Stadt-Verwaltung. Und doch: Nach den ersten Wochen des Staunens hat sich bei mir eine „Normalität“ des Alltags eingestellt. Ich könnte mir vorstellen, hier längere Zeit zu leben.

Viele Menschen in Kalkutta akzeptieren ihr Schicksal – Wir German Doctors nicht!