Das nennt man also in Indien Verkehr…

Geordnetes Chaos auf den Straßen von Kalkutta: Ein Bericht von Einsatzarzt Dr. Hartmut Göpfert

Ladies Sitzplatz

Ladies first: Dieser Sitzplatz ist nur für Frauen

Nachdem ich in meinem vorherigen Blog-Beitrag meine ersten Eindrücke dieses faszinierenden Landes und seines Verkehrs im Allgemeinen geschildert hatte, möchte ich mich hier auf den öffentlichen Transport in Indien beziehen. In Howrah habe ich ausschließlich Busse benutzt, wobei zunächst der Fahrpreis beeindruckt – z.B. für die 8 Km und gut 40 Min. nach Kalkutta nur 8 Rupien, d.h. ca. 10 Cent; 1 Liter Kraftstoff kostet dort das 10-fache, fast hiesige Verhältnisse! Haltestellen nach unseren Vorstellungen gibt es kaum: Man weiß etwa, wo der Bus hält oder so langsam fährt, dass man bei stets offenen Türen zu- oder aussteigen kann oder man gibt auf der Straße ein Zeichen, dann bekommt man auch eine Chance. In den meist vollen oder überfüllten Bussen ist auf Sonderplätze zu achten; ich wurde sehr schnell darauf hingewiesen, als ich einen für „Ladies“ gekennzeichneten Platz übersehen und eingenommen hatte, bin dann aber in den Vorzug eines Platzes für „Senioren“ gekommen (die Kategorie „Behinderte“ gibt es auch).

Auch Busfahren will gelernt sein…

Indien Verkehr

Ein Blick aus einem Bus in Kalkutta

Dann beging ich den Fehler, den Ellenbogen auf dem offenen Fenster abzustützen. Der Schaffner gab mir zu verstehen, dass wegen der Enge im Verkehr nichts „überstehen“ dürfe… Die Schaffner haben eine ausgeprägt distributive Aufmerksamkeit: sie haben stets im Blick, wer wo aussteigen wird und noch nicht bezahlt hat. Irgendwann kommt er auf einen zu und holt das Wechselgeld aus der Ledertasche, ggf. mit den stets gleich gefalteten 10-Rupien-Scheinen in der Hand. Er oder manchmal auch (weit entfernt sitzende) Passagiere haben meist registriert, wo ich als Fremder aussteigen wollte und wiesen mich kurz vor dem vermeintlichen Ziel darauf hin.

Weiter geht es mit dem Nachtzug

Nach meinem sechswöchigen Hilfseinsatz für die German Doctors bin ich für einige Tage mit einem Nachtzug an die See gefahren. Es kam mir entgegen, dass der Bahnhof Shalimar in Howrah überschaubar ist; ich traf eine Stunde vor der Abfahrt ein und hat es längere Zeit gedauert, den richtigen Zug zu finden. Es laufen zwar Daueransagen über die Züge, aber die sind nicht so leicht zu verstehen. Am besten ist die Zugnummer zur Identifizierung geeignet, so dass ich den bereitgestellten Zug schließlich als meinen einordnen konnte. Nach weiterem Suchen fand ich den richtigen von 15 Waggons und war überrascht, die Namen aller Passagiere sowohl jeweils am Waggon als auch an den Anzeigetafeln auf dem Bahnsteig auf Endlospapier ausgedruckt zu finden. Einen solchen Stapel gebündelt hatte denn auch der Schaffner, der kurz nach der auf die Minute pünktlichen Abfahrt die Namen kontrollierte und abhakte Es ist generell ratsam, Quittungen bzw. Fahrscheine bei sich zu behalten: Dass man den U-Bahn-Chip beim Verlassen zum Passieren von Sperren benötigt, mag man an aus anderen Städten kennen und dass der schmale Papierstreifen, der z.B. als Fährticket gilt, auf der anderen Uferseite wieder abgegeben werden muss, erscheint nachvollziehbar; dass aber der Kassenbon aus Geschäften nach dem Bezahlen beim Verlassen des Gebäudes nochmals benötigt wird, um mit dem Inhalt der versiegelten Plastiktüte abzugleichen, muss erlernt werden…

Zugabteil in Kalkutta

Ein gemütliches Abteil im indischen Zug

Die knapp 60 cm breite Liege im 2.-Klasse Abteil mit 4 Personen war passabel und es gab sogar eine Handy-Ladestation (und Netzempfang auf der gesamten freien Strecke!). Am Zielort angekommen nahm ich für einen Tag einen Fahrer, um zu entfernteren Sehenswürdigkeiten zu gelangen. Diese Gelegenheit nutzte ich auch, um etwas über mögliche Verkehrsregeln zu erfahren: Helmet on a Motorbike? Not compulsary! Persons on a Motorbike? Maximum two! Mobile when driving? Not allowed! Speed limit? Mostly 60 km/h. Und tatsächlich hatte ich auf einer Ausfallstraße eine Laserkontrolle und in Howrah am Abend eine Alkoholkontrolle für Zweiräder gesehen. Gleichwohl scheinen die Regeln nur als orientierende Empfehlung bewertet zu werden, von Polizei und Verkehrsteilnehmern gleichermaßen – so scheint in Indien Verkehr geregelt zu sein.

Mit dem Tuk Tuk zum Fernbus

Rent a Roller

Hier kann man sich einen Roller ausleihen

Um in den 50 Km entfernten Zielort zu gelangen, entschied ich mich für eine Busfahrt. Da vor dem Hotel gerade ein Tuk-Tuk stand, verzichtete ich auf den Fußweg von ca. 1,5 km zur Bushaltestelle und zahlte dafür 30 Rupien. Das ist zwar für unsere Verhältnisse nicht viel (40 Cent), aber eine Absprache vor der Fahrt hätte vermutlich einen Preis von 20 Rupien ergeben.Ich erreichte gerade noch den anfahrenden Bus und bekam trotz voller Auslastung sogar noch einen Sitzplatz vorn beim Fahrer; ob dies wegen meines Alters von gut 60 Jahren oder wegen meines offensichtlichen Ausländerstatus erfolgte, blieb mir unklar. Der Preis betrug 40 Rupien, was die Diskrepanz für die Fahrt mit dem Tuk-Tuk verdeutlicht. Ich stellte mich auf eine längere Fahrt ein, da der Bus zu Beginn nur 20 km/h fuhr. Grund war aber kein Defekt, sondern die Suche nach weiteren Fahrgästen, obwohl der Bus schon picke-packe voll war. Es ging dann über eine „Schnellstraße“, mit einer Maut-Stelle, aber vergleichbar ist das mit den Verhältnissen in Deutschland natürlich keineswegs – vielmehr halten in Indien Verkehr und Straßen so manche Überraschung bereit: Rinder, Fahrräder und ein Stopp zur Entleerung einer kindlichen Blase auf freier Strecke sind hier ebenso zu erwarten wie Gegenverkehr auf einem Zubringer; ich denke, dass das Wort „Geisterfahrer“ inhaltlich in keine der vielen indischen Sprachen übersetzt werden kann!

Indien Busfahrer mit Wechselgeld

Immer ein Bündel Wechselgeld zur Hand

Von der großen Straße wurden aber auch kleine Dörfer angefahren, in denen die Straßen so eng waren, dass man meinte, für zwei sich begegnende Busse sei nicht genug Platz. Aber weit gefehlt: Für überholende Kleinfahrzeuge reicht es immer! Die 50 Km wurden letztlich in gut zwei Stunden unfallfrei bewältigt. Am Zielort angekommen, habe ich mich entschlossen, aktiv am Verkehr mitzuwirken und einen Roller gemietet. Die „Mietstation“ war nicht so einfach ausfindig zu machen und nach einiger Skepsis seitens des Inhabers durfte ich nach einem sehr freundlichen „Gespräch“ mit dessen nicht Englisch sprechender Frau meinen Pass als Pfand abgeben. Das Aufwändigste an der ganzen Aktion war, am Freitagabend Kraftstoff zu tanken, der Rest hat tadellos funktioniert. Das Prozedere im Nachtzug zurück nach Howrah schien mir dann nicht mehr neu. Ich fand das Abteil auch schnell und dachte, es sei klug, mit Platz Nr. 1 an der 2. Tür einzusteigen, um nicht den ganzen Waggon innen passieren zu müssen. Als ich mich dann auf der mit ca. 80 cm breiteren Liege als auf dem Hinweg niederließ und schon über etwas mehr Komfort freute, kam ein Mitbewerber um meinen Platz und fragte nach einigem Lamentieren, ob ich wirklich die 1. Klasse gebucht hätte? Er war so freundlich, mich zum richtigen Platz zu führen… Auch dieser Zug fuhr pünktlich ab und führte mir das scheinbar widersprüchliche Verhältnis zwischen körperlicher Scham und Distanzlosigkeit vor Augen. Nachdem mein „Obermann“ und ich uns mit Gesten bedeuteten, dass es in Ordnung sei, wenn er an dem kleinen gemeinsamen Tisch etwas esse, nahm er auf meinem Bett Platz und störte sich nicht daran, dass er zur Hälfte auf meinem Bein saß. Na ja, leicht übertrieben, aber Körperkontakt war es schon.

Und wieder mit dem Zug zurück

Verkehr in Indien

Easy Rider in Indien

Der Zug kam an einem Sonntag früh um 5 Uhr in dem mit 23 Bahnsteigen größten Bahnhof von Indien an und es war erstaunlich, welcher Betrieb zu dieser Tageszeit schon herrschte; auch die Busse fuhren schon und es ging etwas schneller als an Werktagen zur Tageszeit, um die Unterkunft zu erreichen. Der Betrieb von Licht an Fahrzeugen in der Dunkelheit scheint ebenfalls „not compulsory“ zu sein. Da wundert man sich doch sehr, dass so wenig Unfälle und vor allem kaum aggressives Verhalten zu sehen sind; jeder nimmt auf alles Rücksicht, gleichgültig, ob es Tier oder Mensch ist und keiner beharrt auf seinem Recht, auch wenn er freiwillig keinen Zentimeter freigibt. Könnte man es auch Toleranz nennen? Der Verkehr ist für mich ein Beispiel von vielen anderen, dass wir unsere Verhältnisse und Gewohnheiten nicht ohne weiteres auf andere Länder oder gar Kulturen übertragen können. Vieles verhält sich dort völlig anders, man möchte zunächst die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, sieht aber im Verlauf: Es geht auch anders, und sogar ganz gut – wenn man Perfektion und Schnelligkeit nicht so hoch bewertet.

Jetzt kenne ich in in Indien Verkehr, Land und Leute – und ich kann wirklich sagen: Incredible India!