Die Faszination des Kontinents

Teil 1 des Berichts von Einsatzarzt Dr. Christian Fricke aus Nairobi

Eine Begegnung beginnt mit einer Begrüßung. Übermüdet nach Nachtflug und Nachtschichten bin ich erst einmal froh, dass mir beim Zoll nicht Vollkornbrot und Bergkäse gemopst wurden, und noch froher als ich tatsächlich problemlos mit einem breiten Lächeln und der Begrüßung „Jambo!?“ von Ben abgeholt werde. Alles ist so völlig normal, läuft nach Plan, das latent Surreale daran ist nur, dass ich selbst mittendrin bin.

Ausblick über den neuen Arbeitsplatz

Der Abend bei, klar, Käsebrot, hat ein wenig Lagerfeuercharakter, Austausch von Anekdoten und Erfahrungen. Meine Kollegen sind wie erwartet total nett. Und ich bin unglaublich froh, nicht allein zu sein. Bärbel zeigt mir gleich das Haus, auch hier alles normal: fließend Wasser, Strom, Toiletten in die man das Papier mit rein werfen darf, Obstsalat, Nutella. Gerald teilt seine Mango mit mir, Christel erzählt mir was mich morgen erwartet. Was mir am meisten Sorgen macht, ist die Taktung: bis zu 70 Kinder soll ich in 8 Stunden sehen. Hoffentlich sind tatsächlich manche chirurgisch oder werden von anderen versorgt, weil ich mir nicht vorstellen kann wie ich bei den doch teils wenig bekannten Krankheitsbildern mit Übersetzung und in neuer Umgebung in im Schnitt 7 Minuten nichts übersehen werde. Auf Raten einer lieben Leserin will ich aber nicht zu viel über die klinischen Fälle erzählen, sondern versuchen, Momente einzufangen.

Aus Tagen in Burma und ähnlicher Literatur weiß ich, worauf es in der Ferne ankommt, wenn man körperlich und geistig gesund bleiben will:

  1. Kein Alkohol vor dem Abendessen. Sonst wird man Alkoholiker.
  2. Regelmäßige körperliche Ertüchtigung. Sonst wird man dick.
  3. Auch wenn die ersten beiden Vorhaben nicht klappen, sollte man zumindest zu jeder wichtigen Begegnung scharf rasiert sein.

Der Anfang ist ja nach dem Ende und neben der Mitte der wichtigste Teil einer jeden Unternehmung, und so habe ich mir über den ersten Tag Gedanken  gemacht. Frisch rasiert gehe ich also an meinem ersten Tag, mit dem guten Vorhaben, danach Schwimmen zu gehen und das Aufgenommene zu verarbeiten,  ins Baraka Medical Center. Im Slum gibt es, ähnlich wie in manchen Vierteln in Berlin, ein Vorderhaus, ein Hinterhaus, und ein Hinterhinterhaus. Vielleicht geht es sogar dahinter noch weiter, aber vielleicht will man es auch nicht wissen. Luxus sieht anders aus, und dennoch strömen uns auf dem Weg viele gut gekleidete Menschen auf dem Weg in ihre Arbeit entgegen. Die rauchigen Blechhütten sind also nicht die Kehrschaufel der Gesellschaft, sondern für viele ein potentielles Sprungbrett, weil Möglichkeit in Stadtnähe zu wohnen und dort zu arbeiten.

Die Arbeit saugt einen mit ihrem Rhythmus auf, und versucht man am Anfang noch die Kinder zum Lachen zu bringen und Kontakt aufzubauen, reicht bei mir die Konzentration schon bald fast nur noch für das Medizinische. Die Übersetzerin Jane Rose, die für die Kindersprechstunde eingeteilt wurde, arbeitet mich quasi ein, erklärt mir während der Sprechstunde Abläufe und hilft mir auf die Sprünge wenn jemand dem Namen nach aus einem Sichelzellgebiet kommt oder die Ferien im Malariagebiet verbracht hat.

Die Faszination dieses Kontinents ist für mich, dass zumindest ein Gesicht so vieles ausdrücken kann. Wenn in der Sprechstunde ein Kind lacht, geht die Sonne auf, mitten im Raum. Mein Antiklimax heute: die Versteinerung des Gesichts der Mutter, die mit ihrem 3-jährigen lahmen und tauben Sohn hören muss, dass ihm nicht entscheidend geholfen werden kann, dass sein Weg schon bei der Geburt vorgezeichnet war. Der schönste Moment war heute ein einsamer: der abendliche Blick ins erstmals leere Wartezimmer. Wenn ich mich erst frei geschwommen habe, kommen bestimmt noch viele Jambo Momente.

Nun ist Bergfest

Mit den kleinen Patienten arbeitet man gerne

Nun ist die Hälfte der Zeit vergangen, eher zäh denn wie im Fluge. Nicht ganz klar, warum es mir emotional schwer fällt hier zu sein, da mir nichts einfällt worüber ich mich beschweren könnte. Auch die Sinnfrage, die den einen oder anderen hier bremsen mag, stelle ich mir nicht; für eine Beurteilung bin ich noch zu frisch. Selbstverständlich kann man sich bei leichten Erkältungen oder chronischen Muskelschmerzen über die Banalität und bei lebensbeendenden, hier nicht behandelbaren Erkrankungen, über die Fatalität ärgern. Da es dazwischen aber auch eine ganze Menge lösbare medizinische Probleme gibt, gibt es wichtigeres zu tun als zu grübeln. Ganz ohne auf das Medizinische einzugehen, wäre der Bericht allerdings doch etwas dünn. Immerhin bildet das den Hauptteil des Tages ab, danach machen wir noch ein bisschen Sport, essen, lesen und das war’s. Kinder sehe ich ca. 200 in der Woche, Montag und Freitag fühlt es sich an wie Fließbandarbeiten. Da die Kommunikation indirekt läuft, gibt es nicht viel persönlichen Kontakt, was vielleicht der Grund ist warum es mir so schwer fällt.

Die meisten kommen primär mit Atembeschwerden und Fieber, Durchfall haben sie auf Nachfrage fast alle. Ich dementsprechend auch, die ganze erste Woche war dadurch sehr schwerfällig. Jedes Kind, das während der kürzlich beendeten Ferien auf dem Dorf war, wird im Zweifelsfall auf Malaria getestet (Hier oben in Nairobi gibt es kaum Malaria). Eine gute Handvoll positiver Fälle gibt es jeden Tag. Kritisch kranke Kinder kommen bei der Triage gleich in den Emergency room, das passiert aber nicht jeden Tag. Die meisten von denen muss ich dann auch weiter überweisen, da es ohne stationäre Therapie oft nicht geht. HIV Neudiagnosen hatte ich noch keine, da alle Kinder oder die Mütter bei Geburt getestet werden, das Raster ist sehr eng.

Am schwierigsten finde ich den Umgang mit der Unterernährung. Gut ein Drittel hat Anzeichen von Mangelernährung, circa ein Fünftel lasse ich in das Ernährungsprogramm aufnehmen. Diese Woche hatte ich zwei Kinder, die über ein Jahr alt waren und keine 5kg wogen. Beide hatten um die Geburt herum neurologisch Schaden genommen, so dass ein Restzweifel bleibt, ob es dahingehend auch kulturelle Vorbehalte gibt, die sich im Fütterungsverhalten auswirken. Die gibt es nämlich tatsächlich, v.a. bei Zwillingen: da Zwillinge ein schlechtes Omen sind, wird in einfach strukturierten Familien z.T. bewusst vorrangig das kräftigere Kind gefüttert und ein Eingehen des schwächeren in Kauf genommen. Der Aberglaube und das Schamanentum haben noch weitere bizarre und furchtbare Geschichten produziert, z.B. werden Kindern, die durch die Unterernährung viel Wasser in den Beinen haben, diese angeritzt damit das Wasser heraus laufen kann. Bei einem anderen Kind, das unterernährt und ausgetrocknet war und deswegen eine sehr tiefe Fontanelle zu tasten war, hatte ein Medizinmann klebrige Blätter auf den Kopf geschmiert, um die Fontanelle wieder nach außen zu saugen. Das und vieles andere zeigt uns immer wieder, wie wenig wir von den kulturellen Hintergründen verstehen und wie wichtig die Übersetzer auch dafür als Vermittler sind.

Am ersten Wochenende war dann Kontrastprogramm angesagt, Tiere gucken. In einer Hütte in einem Nationalpark, mit einer Gruppe amerikanischer Touristen, gab es in jedem Zimmer einen Buzzer, mit dem man auch nachts alarmiert werden konnte, wenn es draußen etwas zu sehen gab. „Action“ wurde das genannt. Die gab es dann tatsächlich, was die Mitreisenden „awesome“ fanden: ein Rudel Hyänen hatte einen Waterbuck ins Wasserloch getrieben und Stück für Stück, obwohl noch lange Zeit lebendig, aufgefressen. Die wenigen Momente, die ich mir davon angetan habe, und die Faszination der Anderen, waren nachhaltig verstörend, wenn es auch ein Naturschauspiel gewesen sein mag. Auch das ist Afrika, für einige Reisende wohl sogar ein wichtiger Teil davon.

Neuer Vater, alte Probleme

Ein Spaziergang durch den Slum

Zurück in der Clinic fielen in der zweiten Woche, als sich der erste Fließbandstress etwas legte, immer wieder psychosomatische Beschwerden auf. Eigentlich kein Wunder, aber in der neuen Umgebung fehlten mir wohl am Anfang die Antennen dafür, und manchmal auch das Verständnis für die Verarbeitung. Bei einem Jungen mit chronischen Bauchschmerzen, der sehr traurig aussah, habe ich also nachgebohrt, ob ihn in der Schule etwas belaste oder sonst etwas vorgefallen sei. Tatsächlich war sein Vater vor einem Jahr gestorben, und ich war sicher auf der richtigen Fährte zu sein. War ich nicht. Der Junge meinte nämlich: „Ich bin gleich mit meiner Mama losgezogen und wir haben einen neuen Papa gefunden, der hat mir was Tolles geschenkt“. Traurig war er, weil seine Schwester zur Tante aufs Land gezogen war. Mit dem neuen Papa kommt er sehr gut aus, wir haben ihn trotzdem zur psychologischen Beratung bei uns im Haus geschickt (auch diese gibt es). Da dort v.a. HIV Patienten beraten werden, wurde die Mutter im Zuge des Gesprächs getestet, sie ist leider seit der neuen Beziehung positiv. Da sie eine „Mpango“, also eine uneheliche Partnerin ist und neu angesteckt wurde, muss jetzt dieser neue Partner und auch dessen Ehefrau auf dem Land beraten werden – manchmal geht die Kette auch noch weiter.

Auch war in der 2. Woche mein „Slumwalk“ dran, bei dem ich keine besondere Aufgabe hatte, aber die Wohnumgebung im Mathare Valley in dem Hilfsprojekt in Kenias Hauptstadt Nairobi kennen lernen sollte. Die Sozialarbeiterinnen suchen HIV-Patienten aus dem Programm unangekündigt auf und fragen nach Problemen, der Regelmäßigkeit der Einnahme, etwaigen Partnern und deren HIV-Status. Die Hütten, die ich gesehen habe, sind 5-8m² groß und bestehen aus einer Kochecke, einer Schlafstätte für die ganze Familie und einer Sitzgelegenheit. Sie sind immer fensterlos, und wo nicht mit Gas sondern über Kohle oder offenem Feuer gekocht wird brennen einem im Nu die Augen und der Hals vom Rauch. Viele der kleinen Patienten kommen mit chronischen Atembeschwerden, kein Wunder! Im Team haben wir nun überlegt, wie wir die Belüftung verbessern können. Stand des Projekts ist nun, dass die Sozialarbeiter etwaige Widerstände gegen einen Einbau von einfachen Kaminen eruieren werden (ein ähnliches Projekt war in Nepal gescheitert, weil die Bewohner den Rauch als wirksam gegen die Termiten erachtet hatten und die teuren Kamine deswegen verstopft haben), wir die Maße einer durchschnittlichen Hütte mitteln wollen und dann zusammen mit social architects einen Prototyp entwerfen wollen, der von den Leuten ohne Kostenaufwand nachgebaut werden kann. Als Kamin könnte z.B. eine aufgeschnittene Flasche mit Regenschutz, am höchsten Punkt des Pulkdachs positioniert, fungieren. Ich bin gespannt ob wir die Idee weiter entwickeln können, werde berichten.

Einbeiniger Taxiservice

Die Natur rund um Nairobi ist atemberaubend

Letztes Wochenende sind wir Wandern gegangen, auf den Elephant Hill in den Aberdares. Von dem Fahrer, den wir über Uber kennen gelernt hatten, muss ich unbedingt kurz erzählen: Ibrahim Wafula hat als Kind ein Bein verloren, fährt heute höchst erfolgreich Radrennen und ist Kapitän der kenianischen Einbeinfußballnationalmannschaft. Nebenher engagiert er sich um andere Menschen mit körperlicher Behinderung in sein Taxiunternehmen aufzunehmen, er nennt das „oneleg network“. Leider ist der Fuß, der ihm geblieben ist, der Gasfuß, deswegen sind wir auf der Rückfahrt ein paar Tode gestorben. Auf dem Elephant Hill war außer uns niemand. Auch Elephanten haben wir nicht gesehen, aber frischen Dung, immerhin noch auf 3500m Höhe! Kurz vor dem Gipfel dann ein kürzlich abgestürztes Kleinflugzeug am Weg, das war emotional, viele Bilder im Kopf. Mein Vater war vor seinem Absturz auch hier im Projekt gewesen, ich glaube sogar öfters.

Nun bleiben mir noch 3 Wochen Arbeit, und es schleicht so etwas wie ein Alltagsgefühl ein. Auf einem Niveau, das ich nicht lange durchhalten würde, zu sehr fehlt mir die Heimat und die Familie, die Kinder – die jüngste kann inzwischen krabbeln und sagt jetzt „Dade“ wenn sie etwas übergibt, alles Neu für mich. Aber mit Beginn der 2. Hälfte wächst auch das Gefühl, noch ein bisschen mehr geben zu können. Ich hoffe es klappt!