Hausbesuche im Slum

Teil 2 des Berichts von Einsatzärztin Dr. Sigrun Schulze-Stadler aus Nairobi

Die Wege im Mathare Valley sind eine echte Herausforderung

Letztes Wochenende war ich so intensiv beschäftigt, dass ich keine Zeit zum Schreiben gefunden habe. Ich war mit den beiden neuen Ärztinnen im Süden von Kenia, im Amboseli Nationalpark am Fuße des Kilimandscharos. Den haben wir nur teilweise zwischen den Wolken durchscheinen gesehen, aber ansonsten hatten wir keinen Regen, sogar richtig Sonne. Jede Menge Tiere haben wir gesehen, vor allem meine Lieblinge, die Elefanten, die in großen Herden direkt vor unserer Nase durch die schöne Savannenlandschaft zogen. Schon längere Zeit außerhalb des Parks waren sie und andere Tiere anzutreffen, was wir in anderen Gegenden Kenias auch schon erlebt hatten, Tiere nicht hinter Absperrungen. Ich bin auch richtig froh, dass meine Augen wieder in Ordnung sind, der grippale Infekt sich bessert und es hier in Nairobi auch weniger regnet.

Die Arbeit in Baraka, so der Name unserer Ambulanz in Mathare  in einem der Hilfsprojekte der German Doctors in Kenia, fällt mir nach den Wochen des Eingewöhnens nun auch leichter, ich kann besser mit den vielen Patientinnen umgehen, die mit Rücken-, Bauch-, Kopf-, Gelenk-, Brustschmerzen kommen, wohinter sie ihre schwierige Lebenssituation verstecken und hoffen, dass wir dann sofort die richtige Medizin zur Hand haben, um alles wegzuzaubern. Gespräche bleiben an der Oberfläche, vorwiegend kann man über die Lebensbedingungen mit ihnen sprechen, bei den Frauen sind das Hausmädchen, Wäscherinnen, Schneiderinnen, Verkäuferinnen, die alle beengt, lange und schwer für einen Minimallohn arbeiten. Wenn ich dann wieder „Painkillers“ aufschreibe, fühle ich mich unwohl und denke, dass ich so den Problemen nicht gerecht werde. Aber so läuft es dann leider. Mittlerweile hat sich aber auch rumgesprochen, das in Baraka eine Gynäkologin arbeitet und ich habe immer mehr Gynäkologiepatientinnen.

Keine Chance auf Heilung

Bitte nicht ins „Wasser“ fallen

Mittwoch war eine stillende Frau da, Mutter von drei Kindern, die den nicht seltenen Befund einer großen Schwellung in der linken Brust hatte. Etliche Mammaabszesse musste ich schon chirurgisch eröffnen, häufiger, als ich solche schweren Fälle je in Hamburg gesehen habe. Bei dieser Frau fand ich dann leider ein Mammakarzinom. Ein Jahr zuvor war sie von Baraka mit einem deutlich kleineren Befund zur Mammographie geschickt worden. Sie hat sich aber wegen Geldmangels nicht röntgen lassen und alles verdrängt. Nun ist der Tumor so groß, das keine Chance auf Heilung mehr besteht. Ich habe zusammen mit einer „Counselor“ Mitarbeiterin (Brigit) versucht, sie darauf vorzubereiten, dass sie eine unheilbare Krankheit hat. Das war für sie kaum vorstellbar, logisch. Ihr Mann gibt ihr noch nicht mal das Geld, um zu uns zu kommen, verprügelt sie, weil sie krank ist und unterstützt sie auch nicht mit den Kindern. Wir haben ihr angeboten, dass sie immer zu Gesprächen kommen kann und dass sie alle Medikamente bei uns bekommt, die sie in Zukunft braucht. Auch haben wir einen Onkel aufgetan, der ihr das Geld für eine Krankenversicherung zahlt. Nach 3 Monaten kann sie dann kostenlos auch im Krankenhaus behandelt werden.

Am gleichen Tag hatte ich noch eine Patientin mit kleinem Mammakarzinom, 3 Patientinnen, bei denen wir einen positiven Test auf HIV hatten, davon eine Schwangere, 5. Kind. Dann noch eine bewegende Geschichte: Die 36-jährige Frau hatte vor 2 Jahren ein 12 cm großes Ovarialkarzinom, das operativ und mit Chemotherapie behandelt worden war. Die letzte Kontrolle im August 2017 soll ohne Befund gewesen sein. Nun kam sie wegen Bauchschmerzen und zunehmender Schwellung seit Januar im Unterbauch. Auch ich tastete einen prallen, bis knapp unter den Nabel reichenden Tumor. Ich war völlig auf ein Rezidiv, also einen Rückfall des Karzinoms eingestellt und fiel aus allen Wolken, als ich den Ultraschallkopf auf ihren Bauch stellte. Diagnose: Intakte Schwangerschaft im 5. Monat. Kein Anhalt für ein Rezidiv. Das glückliche Gesicht der werdenden Mutter hat mich für den Tag sehr froh gemacht.

Gestern, am Samstag, wieder eine Woche geschafft. Nun sind wir 4 Ärztinnen im Haus und haben gestern den Mt. Longonot, einen Berg mit Vulkankrater, der am großen Grabenbruch liegt, bestiegen. Den steilen, nicht richtig ausgebauten Weg fand meine noch röchelnde Lunge nicht amüsant und ich habe die jungen Kolleginnen zunächst vorgeschickt und mich dann hochgequält. Das hat sich aber sehr gelohnt, der Blick in und über den Krater war toll, am Fuße des Berges sahen wir dann auch Giraffen und Zebras.

Dreharbeiten im Slum

Mit ihren Schuluniformen sehen die Kinder sehr schick aus

In der letzten Woche wurden wir von einem Filmteam begleitet, das für die German Doctors einen Film gedreht hat. Ein Filmemacher und ein Kollege aus Bonn, von der Geschäftsstelle haben eine Woche lang uns bei der Arbeit begleitet und sogenannte Arztportraits mit uns erstellt. Die Fragen, die dabei aufgeworfen wurden, führten bei mir dazu, dass ich doch vieles im Zusammenhang mit meinen Einsätzen noch mal durchdacht habe und wir hatten lange, äußerst fruchtbare abendliche Diskussionen über die Sinnhaftigkeit unseres Tuns. Ich fand es auch sehr spannend, wie aus 10 Stunden Filmmaterial ein kurzer Clip, der dennoch wesentliches zeigt, zusammengeschnitten wird und wie das technisch heutzutage am Computer gemacht wird. Entscheidend war sicher, dass die beiden ohne Drehbuch mit großer Sensitivität gearbeitet haben, und eine durchaus kreative Woche dabei herauskam. Vielleicht werdet ihr ja in Zukunft so einen Film mal sehen.

Das zweite Erlebnis war meine „Slumvisite“. Jede Woche darf ein anderer Einsatzarzt Rose dabei begleiten, und dieses Mal war ich dran. Natürlich wurden wir von dem Filmteam begleitet und ganz Mathare fühlte sich wie in Hollywood, wenn zufällig die Bewohner oder spielende Kinder mit ins Bild kamen. Rose lebt fast ihr ganzes Leben in Mathare Valley. Sie kennt jeden Bewohner und hat für alle und alles Zeit. Sie ist als sehr junge Frau, vom Lande kommend, in Mathare gelandet, hat dort ihren Mann kennen gelernt und 7 Kinder bekommen. Ihr Mann ist an Aids gestorben, ihr neuer Mann, der (soweit ich mich erinnere) acht Kinder mit in die Ehe gebracht hatte, ist ebenfalls an Aids gestorben, ebenso ihr Vater, dessen 5 Kinder sie dann auch noch mit großgezogen hat. German Doctors haben ihr dann später geholfen, sie hat die Ausbildung zur Sozialarbeiterin gemacht und betreut nun seit Jahren schon die PatientInnen in Mathare, die nicht in der Lage sind, nach Baraka zu kommen. Wir hatten 5 Hausbesuche an dem Nachmittag in 2,5 Stunden. Abenteuerliche Wege musste ich da gehen, steile, sehr steinige Pfade runter zum Matharefluss, durch Matschlöcher waten, unter Wellblech durchkriechen, wobei scharfe Kanten die Kleidung aufschnitten, über Stege mit fehlenden Bohlen balancieren, die über ungeheuer stinkende, stehende Gewässer führen. Die Vorstellung, da reinzufallen, hat mich noch in meinen Träumen verfolgt.

Schlafen auf dem nackten Erdboden

Die Dächer der Wellblechhütten prägen das Bild des Mathare Valley Slums

Wenn wir dann so eine Behausung erreicht hatten, fand ich eine Großfamilie auf 10 qm (größere Wohnungen gibt es nicht). Alle schlafen in einem Bett oder auf der nackten Erde (der Boden besteht aus gestampften Lehm), es war stockdunkel und sehr unterschiedlich sauber. Ein altes Geschwisterpaar, beide HIV-positiv, deren Hütte 1 Meter unter dem Türeingang lag, waren nicht mehr in der Lage, für Ordnung zu sorgen. Rose geht unter anderem dahin, um den Leuten ihre Medikamente zu bringen. Auch zählt sie immer die restlichen Tabletten durch, um zu kontrollieren, ob alle verschriebenen Tabletten eingenommen wurden. Wenn das nicht passiert, drohen opportunistische Infektionen, die auch tödlich enden können. Die Schwester hatte den gesamten Kopf voller Knoten und juckende Haut. Ich habe sie soweit das bei der Dunkelheit ging, untersucht und ihr ein Rezept geschrieben, dass wir dann mit nach Baraka genommen haben, damit die Medikamente am nächsten Tag gebracht werden können. Sie war froh, sich auf Englisch unterhalten zu können. Sie war nie verheiratet gewesen, hatte einen Sohn, der vor einigen Tagen verstorben ist und noch nicht beerdigt wurde. Durch dieses geballte Leid war ich dann doch ganz schön geschockt. Auch als wir bei einer alten Frau waren, die sich nach einer Oberschenkelfraktur, die chirurgisch versorgt worden war, nicht mehr bewegen konnte. Die gesamte Narbe war massiv infiziert und ich habe ein Rezept geschrieben. Dazu musste ich aus meinem Oktavheftchen, wo ich alle meine gynäkologischen Notizen reingeschrieben hatte, eine Seite rausreißen und schön alles aufschreiben. Das Filmteam hat Licht in die Hütten gebracht und mit der Kamera die Menschen begleitet. Draußen wurde ich dann zu meinen Eindrücken interviewt. Diesen Besuch bei den PatientInnen werde ich sicher nicht so leicht vergessen…