Wir mussten niemanden wegschicken

Teil 5 des Einsatzberichts von Dr. Barbara Müllerleile aus Kalkutta

Hab keine Angst vor dem Stethoskop

Gestern hatte ich nach meinem Ausflug noch ein wenig Abenteuer. Nachdem ich in Kalkutta angekommen war, ging ich auf Taxisuche, leider fand ich keins. Ich wurde aber von einem jungen Mann angesprochen, der mich für 1900 Rupien nach Howrah fahren wollte. Ich habe auf 700 runtergehandelt, was auch noch ein stolzer Preis ist. Wegen Holi ist halt alles teuer. Die Hindus sind zum großen Teil angetrunken und die Moslems teilen sich den Markt. Irgendwie hatte ich aber ein blödes Gefühl und als der Mann sein Auto holen ging, bin ich abgehauen. Vom Flughafen bis Howrah fährt man eine gute Stunde. Da es schon 21:30  Uhr war wollte ich zügig in mein Zimmer und ins Bett. Also der nächste Versuch. Ich ging zum offiziellen Taxibüro. Zum Glück stand ich auf der falschen Seite und ein Mitarbeiter fragte mich nach meinem Ziel. Als ich es erklärt hatte sagte er mir, vor 23 Uhr gäbe es keine Taxis mehr und zeigte auf die Schlange, die ich erst jetzt sah. Plötzlich wurde einer der Männer, die zugehört hatten, ganz höflich und bat mich in sein Auto. Es war ein offizielles Taxi ich fragte ihn ob er den Taximeter anmachen würde. Das wollte er nicht, sagte er aber, er habe eine Preisliste „for special Guests“. Ich ahnte schon Böses und tatsächlich wollte er mehr als 2000 Rupien.  Gut, es war ein sehr vornehmes Taxi. Bett hin oder her, das wollte ich doch nicht bezahlen. Also wieder raus. Da wurde er kompromissbereit und wir einigten uns auf 700 Rupien, wenn er noch andere Fahrgäste mitnehmen dürfe. Ok, aber irgendwie fielen mir unangenehme Geschichten ein. Er kam aber mit einem anderen Taxi samt Fahrer an. Ziemlich heruntergekommen, dreckig und kaputt, also normal. Er war mit 700 Rupien einverstanden und fuhr auch gleich los. Unterwegs sammelte er noch zwei Frauen ein und fuhr einen großen Umweg, um sie auszuladen, aber das war ok. Leider hatte er keine Ahnung wo ich hinmusste und Englisch konnte er auch nicht. Aber die New Bridge kannte er und von da aus wusste ich den Weg. Als ich ausstieg versuchte er noch zu handeln, aber da biss er bei mir auf Granit…

Die Arbeit geht weiter…

Duschen und ins Bett. Um 7 Uhr aufgestanden, gefrühstückt und ab nach Chengali. Diese Station liegt etwas außerhalb aber wir brauchen länger als eine Stunde dorthin, weil wir mit dem Zug fahren. Das ist sehr interessant, weil der Zug immer total voll ist und interessante Leute mitfahren. Es gibt Essen und Tee und in Indien darf man nach dem Essen auch ein lautes Bäuerlein machen, zumindest die Männer. Heute früh, als der Zug an einer Haltestelle hielt,  ist ein Mann im Anzug ausgestiegen und zum gegenüberliegenden Bahnsteig gegangen, hat mit dem Rücken zum Zug gepinkelt und ist wieder eingestiegen. Der Zug ist weitergefahren, ich war von den Socken. Dann steigen wir aus und fangen an zu stempeln. 124 Leute zu Dritt, das müsste gehen. Ich habe viele Kinder mit Husten und Running Nose ohne Fieber, Diabetes, Hypertonie und Hauterkrankungen behandelt. Später kommt eine Frau so um die 30, sie wurde von ihrem Mann geschlagen, weil sie ihre fünf Kinder nicht zur Räson bringen konnte, als er genervt war und seinen Holirausch ausschlafen wollte. Meine Dolmetscherin sagte ihr, sie solle ihm aus dem Weg gehen, wenn er getrunken habe. Was Anderes bleibt ihr auch nicht übrig, weil sie von ihm in jeder Hinsicht abhängig ist. Um 16 Uhr waren wir fertig. Da kam noch ein Notfall auf einem Karren. Eine 40-jährige Frau mit Halbseitenlähmung seit zwei Wochen, total ausgetrocknet, Druckgeschwüre über der ganzen Wirbelsäule und etwas verlangsamt. Sie lebt bei ihrer Schwester und deren Familie, weil sie sonst niemand hat. Die Schwester will sie auch nicht, weil sie weder Platz noch Essen übrig hat. Wir haben ihr eine Infusion gelegt und von unserem Fahrer ins Krankenhaus fahren lassen.

So viel Leid

Die Türen in indischen Zügen bleiben für Frischluft geöffnet

Heute wieder Forshore Road. Ich bin um 6:45 Uhr aufgestanden, wie jeden Tag. Um 8:10 Uhr geht es los. Vor der Ambulanz wieder Unmengen von Leuten. Heute stempel ich gleich 105, weil wieder viele Männer dastehen und sonst keine Frauen drankommen. Als ich aufhöre werde ich echt bedrängt… Hilft nix , wenn die 100 fertig sind kann es weiter gehen, aber erst nach der Mittagspause. Als erstes habe ich ein Baby, 6 Wochen alt mit 40 Grad Fieber und einer Lungenentzündung. Ich gebe ihm so fort Paracetamol und schicke es ins Krankenhaus. Dieses Kind ist wirklich schwer krank und muss in die Kinderklinik. Für solche Fälle haben wir Fahrer, weil bei Aufnahme in der Klinik sofort bezahlt werden muss und diese Mutter sicher kein Geld hat. Der Fahrer bezahlt und gibt den Angehörigen Bescheid, weil die Verpflegung durch die Angehörigen erfolgen muss. Die Mutter stillt das Baby voll, da ist die Ernährung kein Problem. Ein Kind mit einer infizierten Wunde, das ich letzte Woche gesehen habe stellt sich erneut vor zum Verbandswechsel. Es heult jämmerlich, ehe ich überhaupt angefangen habe den Verband zu entfernen. Auch ein Luftballon hilft hier nicht. Egal, ich mache den Verband ab und entferne das neurotische Gewebe. Da sieht die Wunde gleich richtig gut aus und wird von der Verbandschwester verbunden. Es geht weiter mit Husten und Erkältung, Durchfall und Bauchweh. Irgendwann kommt ein Patient der vor drei Tagen aus sechs Meter Höhe abgestürzt ist und sich links alle Rippen gebrochen hat. Also Desaultverband, Schmerzmittel und zum Röntgen, obwohl das akademisch ist und keine Konsequenzen hat.

Brigittes letzter Arbeitstag

Einfache Behausungen in Kalkutta

Brigitte hat heute ihren letzten Arbeitstag und gibt das Mittagessen aus. Hinterher möchte ich gerne schlafen weil ich so satt bin. Dann wird es interessant, jetzt kommen die Herzkranken. Ich bin nicht schlecht im EKG lesen, aber was  jetzt auf meinen Tisch an Echos, Röntgenbildern und Befunden landet, überfordert mich dann doch ein wenig. Zum Glück ist Elisabeth mit mir in der Ambulanz. Sie ist Kardiologin und Psychoanalytikerin. Sie hilft mir das Chaos zu sortieren und weiter zu planen. Dann kommt ein 30-jähriger Mann mit seiner Mutter. Er hat einen Riesenbeutel mit Befunden, Röntgenbildern, Gastroskopiebildern und Befunden, und alles ist in Ordnung. Jetzt hat er Kopfschmerzen und Magenschmerzen, er sieht leidend aus. Wenn die Übersetzerin etwas fragt antwortet die Mutter. Ich finde es ein wenig seltsam, dass er mit der Mutter kommt und sie so dominant ist.  Ich denke an eine Depression. Es stellt sich heraus, dass es in Indien nicht unüblich ist, dass Mütter einen ihrer Söhne an sich binden um versorgt zu sein. Meine Kollegin kennt die indischen Strukturen und findet das gleich raus. Sie schickt die Mutter raus und redet über die Dolmetscherin mit dem jungen Mann. Er kriegt ein Antidepressivum und soll in zwei Wochen wiederkommen. Ich bin froh als es 16:15 Uhr ist und alle versorgt sind. Wir mussten niemanden wegschicken. Ich bin froh, weil ich nachmittags Patienten sehe, die ich morgens gestempelt habe. Die Leute haben z.T über 12 Stunden auf ihre Behandlung gewartet. Meine Hände freuen sich aufs gewaschen werden. Dreck habe ich genügend desinfiziert. Duschen wäre auch nett, wenn es Wasser gäbe. Gibt es. Aber heute dafür kein Internet. Und so neigt sich ein weiterer Tag in Kalkutta dem Ende zu…