Arztbehandlung im Akkord

Teil 6 des Einsatzberichts von  Dr. Barbara Müllerleile aus Kalkutta

Eng und dunkel ist in Kalkutta der Normalzustand

Heute geht es wieder nach Tikia Para. Das ist der Ort, den Gott oder wer auch immer total vergessen hat. Die Menschen dort sind die Ärmsten, die ich je gesehen habe und die Ambulanz ist richtig fürchterlich. Als wir kommen, stehen über Hundert Menschen da. Wir müssen erst einräumen. Hier ist es unglaublich laut, weil die Ambulanz an einer großen Straße liegt und Hupen zum Autofahren gehört wie Gas geben. Ich geh mit einer Arzthelferin stempeln und gucke ob jemand schwer krank ist. Wieder zuerst die Kinder. Es sind heute 35. Blöd ist, dass es pro Familie nur einen Stempel gibt. Das bedeutet, falls die Mutter auch krank ist, reiht sie sich nach Behandlung des Kindes hinten bei den Frauen wieder ein. Dann stemple ich 43 Männer. Manchen sehe ich an, dass sie es saublöd finden, von einer alten Frau gestempelt und später auch behandelt zu werden. Wir haben 5 Männer dabei, die die Elektrik, den Generator, die andere Logistik und mit dem Megafon den Ablauf strukturieren. Sie sind auch fix zur Stelle, wenn es Geschrei gibt. Ich habe jetzt 78 Patienten gestempelt, 90 sollen gestempelt werden, das geht auf Kosten der Frauen. Also stemple ich 120, aber anders geht es nicht. Nachdem ich fertig bin stehen noch viele Frauen ungestempelt da und gucken mich an. Das ist fast nicht auszuhalten, weil ich weiß, dass manche um 3 Uhr gekommen sind. Die Kolleginnen haben Verständnis und sind nicht sauer. Sie sehen es genauso.

Wenn der Mann nicht will…

Einfach mal faul in der Sonne liegen…Hund müsste man sein

Bei den Kindern ist nix gravierendes dabei. Ein Kind ist sehr unterernährt, ich würde es gerne mit seiner Mutter und den Geschwistern zum Aufpäppeln mit ins Pushpa Home nehmen, aber die Mutter lehnt ab, weil der Mann das nicht möchte. Also impfen, entwurmen, Eisen geben und über Ernährung sprechen. Ich habe heute Luftballons mitgebracht, damit ich eine grob neurologische Untersuchung zwanglos durchführen kann, indem das Kind den Luftballon fangen soll oder ihn unter dem Tisch herausholen soll. Das geht schnell, gibt kein Gebrüll und wenn das Kind abgehört wird ist es mit dem Luftballon beschäftigt und ruhig. Ich bekomme einen Eindruck von der Beweglichkeit. Nach den Kindern kommen z.T. echt ausgemergelte, abgeschaffte alte Männer. Heute hatte ich einen jungen Mann mit Verdacht auf Lepra. Eine 17-jährige laut heulende mit ihrer schreienden Mutter kommt als Nächstes. Das Mädchen hat Probleme mit einem Mann, genau habe ich es nicht verstanden, ob sie ihn nicht wollte oder er sie nicht. Aber das Mädchen hat sich in suizidale Absicht einen 2cm langen Schnitt am Handgelenk zugefügt. Eine andere Patientin, 26 Jahre, fünf Kinder, das Älteste 12, das Jüngste ein paar Monate. Die Frau sieht aus wie 50 Jahre. Kontrazeption geht nicht, weil der Mann das nicht möchte. Also gebe ich die Pille gegen Schmerzen bei der Menstruation. Dazu Vitamin D und Calcium. Die Frauen kommen in diesem Land, mit so vielen Sonnenstunden, nicht aus den Zimmer. Sie kochen auf Feuern aus getrockneten Kuhfladen in den Behausungen und es qualmt und stinkt. Was für ein schreckliches Leben.

Ab heute nur noch zu zweit

Die Schlange vor der Ambulanz ist oft sehr lang

Nach der Mittagspause gehe ich nochmal stempeln, 40 Frauen sind ungefähr noch übrig. Ich stemple alle und wir sind um 16 Uhr fertig und etwa eine Stunde später zu Hause. Ich habe seit heute Morgen meine Hände nicht mehr gewaschen. Sie kleben. Jetzt warte ich bis das Wasser wieder geht. Dann esse ich etwas und lege mich hin. Heute Abend habe ich zwei Arbeitswochen hinter mir. Ich bin unterm Strich zufrieden. Die meisten Patienten konnte ich behandeln und bei den anderen habe ich mir kompetente Hilfe geholt. Heute früh waren nur zwei Ärzte für Chengali eingeteilt, weil eine Kollegin nach Hause geflogen ist. Ihr Einsatz war beendet. Also sind wir ab heute nur zu Zweit. Als wir schon im Auto sitzen, kommt die Koordinatorin und winkt Tacilla, meine Übersetzerin, raus. Das ist mir nicht recht. Ich sage ihr, dass ich noch neu bin, wir heute nur zwei Ärzte sind und es schwierig ist, mich auch noch auf eine neue Dolmetscherin einzustellen. Die Koordinatorin freut sich nicht, aber sie lässt mir Tacilla. Wir sind beide froh. Jetzt geht es mit dem Auto zum Bahnhof und dann mit dem Zug weiter wie immer. Der Zug ist wie immer überfüllt, aber irgendwie passen alle rein. In Chengali warten viele Patienten. Wir einigen uns darauf, 80 von Ihnen zu stempeln.

Ich bin zufrieden

Mein kleines Sprechzimmer…

Zuerst wieder die Kinder. Da sind heute ganz Kleine dabei. Die kriegen alle eine Mütze auf, damit sie gleich drankommen. Insgesamt haben wir 29 Kinder. Dann die Männer. Die sehen nicht sehr krank aus, bis auf einen. 34 Männer also 63 Patienten. Die längste Schlange sind die Frauen. 17 kann ich stempeln. Blöd ist, wenn chronisch Kranke nicht dran kommen – wie z.B. Diabetiker, Hypertoniker oder COPD Patienten. Sie brauchen dringend ihre Medikamente. Länger als vier Wochen werden die Medikamente nicht aufgeschrieben und wenn sie nicht dran kommen, ist das für sie sehr schlecht. Ich gehe nach der Mittagspause und sammle die chronisch Kranken. Es bleiben noch 18 Frauen übrig, also für jede von uns neun. Als wir fertig sind, haben wir zu zweit 104 Patienten gesehen… Ich bin zufrieden. Dann kommen noch der Sohn und die Mutter des Bürgermeisters und möchten eine Beratung. Natürlich machen wir auch das gerne. Ich kaufe unterwegs noch sehr leckere Mangos. Zuhause setze ich mich auf die Dachterrasse und tippe weiter mein Tagebuch.