Tuberkulose in Indien bekämpfen

Ein Bericht zum Welttuberkulosetag 2016

„Sehr besorgt und kummervoll war die Mutter, als sie mit ihrem zweijährigen Sohn zu uns in die Ambulanz kam,“ erinnert sich Dr. Tobias Vogt, der als Langzeitarzt schon seit 14 Jahren in Kalkutta lebt und arbeitet. Der Junge war nur fünf Kilogramm leicht, konnte weder sprechen noch laufen. Was zunächst aussah wie ein normaler Fall von schwerer Unterernährung, welche die Ärzte hier in den Slumambulanzen täglich sehen, entpuppte sich als Patient, der sowohl an Tuberkulose als auch an HIV litt und deshalb so stark unterernährt war. Beide Krankheiten führen schon für sich alleine zur Auszehrung von Patienten. Beide Erreger, derjenige der Tuberkulose wie auch das AIDS-Virus, helfen einander sogar noch in ihrer zerstörerischen Wirkung. Mittels eines Tests stand schnell fest: Auch die alleinerziehende Mutter dreier Kinder war an Tuberkulose erkrankt und trägt den HI-Virus in sich. Am Welttuberkulosetag wollen wir auf Schicksale wie diese hinweisen und aufzeigen, mit welchen Mitteln wir in Indien gegen die Krankheit kämpfen:

Täglich werden die German Doctors, die für sechs Wochen ehrenamtlich in Kalkutta und der Nachbarstadt Howrah arbeiten, mit Verdachtsfällen von Tuberkulose konfrontiert. In Deutschland begegnen Ärzte nur noch selten diesem Krankheitsbild, auch wenn in den letzten Jahren die Zahl der neu Erkrankten hierzulande nur noch stagnierte und durch den aktuellen Zustrom an Flüchtlingen ein Anstieg der Tuberkuloseerkrankten in Zukunft befürchtet wird.

Die German Doctors werden zur Vorbereitung vor ihrer Ausreise tropenmedizinisch geschult. Denn in Kalkutta und Howrah wütet die Seuche der armen Leute, wie die Tuberkulose auch genannt wird, noch immer: 1,6 Millionen Inder steckten sich 2014 neu mit der Krankheit an oder erlitten einen Rückfall. Jeder unbehandelte Patient mit einer offenen Lungentuberkulose steckt im Schnitt 14 andere Menschen pro Jahr an – ein großes Problem, und das nicht nur am Welttuberkulosetag… Die in den Slums beengten Lebensbedingungen, mangelnde Frischluftventilation, die Unter- bzw. Mangelernährung der armen Bevölkerung sowie die unzureichende öffentliche Gesundheitsversorgung begünstigen die Verbreitung der Seuchenerkrankung.

Welttuberkulosetag 2016

Sunita Khatoon und ihr Sohn bei der Aufnahme ins Krankenhaus

Tuberkulose ist bei konsequenter Therapie sehr gut heilbar. Die Erfolgsquote liegt in Indien bei 88 Prozent. Problematisch wird es bei den Patienten, die weitere Erkrankungen – wie Sunita Khatoon und ihr Sohn Kiran – oder einen resistenten Erreger haben. Dann sinkt die Heilungschance rapide. 251.000 Inder starben im Jahr 2014 an der Infektionskrankheit. Über die Jahre haben die German Doctors in Kalkutta ein dichtes Netz an medizinischer Hilfe für die Ärmsten gewebt: Die Kurzzeitärzte untersuchen und behandeln in Slumambulanzen an verschiedenen Orten die Menschen, die sich keinen Arzt leisten können. Hier werden viele Tuberkuloseverdachtsfälle identifiziert und auf die Erkrankung getestet. Die vier Stadtteil-Tuberkulosezentren sind Anlaufstellen für Erkrankte. Dort werden die Medikamente unter Aufsicht ausgegeben und eingenommen. Drei Mal pro Woche muss ein Tb-Patient seinen Medikamentencocktail nehmen. Für schwere Fälle, die nicht ambulant behandelt werden können, gibt es das Tuberkulose-Krankenhaus St. Thomas Home für Frauen, das Tuberkulose-Kinderkrankenhaus Pushpa Home sowie eine Station für Männer, an die Patienten überwiesen werden. Die Organisation finanziert und leitet permanent die stationäre Langzeittherapie von etwa 110 Patienten, 250 Erkrankte werden ambulant behandelt.

Die Entwicklung der Tuberkulosekranken der letzten Jahre fasst Langzeitarzt Dr. Tobias Vogt in einem Gespräch, das wir zum Welttuberkulosetag mit ihm geführt haben, so zusammen: „Zu uns kommen fast nur noch die schweren Fälle, das heißt Menschen in einem weit fortgeschrittenen Stadium der Erkrankung, etwa wegen multiresistenter Tuberkulose oder Tuberkulose plus Begleiterkrankungen.“ So wie Kiran und seine Mutter Sunita Khatoon. Mutter und Sohn wurden nach ihrer Erstvorstellung im Frauentuberkulosekrankenhaus der German Doctors stationär aufgenommen und blieben für acht Monate dort. Für ihre beiden Töchter wurden für die Zeit des Krankenhausaufenthaltes der Mutter Internatsplätze organisiert. Manche Patienten müssen bis zur Gesundung mehrere Jahre bleiben. Beide Patienten haben inzwischen ihre Tuberkulose-Therapie komplikationslos und erfolgreich abgeschlossen und sind von dieser Erkrankung geheilt. Auch der HI-Virus wird behandelt. Mutter und Kind erhielten beide jeweils eine kostenlose AIDS-Therapie vom indischen Staat. So wurde bei beiden das Virus soweit unter Kontrolle gebracht, dass es zwar im Körper noch vorhanden ist aber keinen weiteren Schaden mehr anrichten kann. Die Tabletten werden die beiden ihr ganzes Leben lang einnehmen müssen. Im Verlauf der Therapie im Krankenhaus konnten Mutter und Sohn sehr deutlich an Gewicht zunehmen. Der kleine Kiran lernte zu laufen und zu sprechen. Der Junge nahm erstmals Kontakte zu anderen Kindern auf und spielte mit ihnen. Auch bei Sunita Khatoon verschwanden alle Zeichen der Tuberkulose, man erkennt die Beiden auf den Fotos nicht wieder.

Die Mutter hat den Krankenhausaufenthalt auch dazu genutzt, Lesen, Schreiben und Handarbeiten zu lernen. Die German Doctors ermöglichen den Patienten während ihres stationären Aufenthalts solche Bildungsangebote, um ihre wirtschaftliche Situation in der Zukunft zu verbessern. Sunita Khatoon will am liebsten von niemandem abhängig sein, sondern sich und ihre Familie durch ihr Erlerntes finanziell selbst über Wasser halten.

Tuberkulose in Kalkutta

Sunita Khatoon und ihr Sohn bei der Entlassung acht Monate später

Das Netzwerk der German Doctors im Kampf gegen die Tuberkulose schließt auch die wenig qualifizierten Heilpraktiker der Slums mit ein, um falsche Therapien und das Entstehen resistenter Tuberkulose zu verhindern. „Die local doctors, wie sie hier genannt werden, überweisen Verdachtsfälle an uns, und wir verifizieren die Diagnose. Im positiven Fall gibt es zwei Möglichkeiten: Wir übernehmen die Behandlung und geben dem Heilpraktiker für seinen Verdienstausfall der entgangenen Behandlung Vitaminpräparate, die er weitergeben kann, oder wir verweisen den Patienten auf Wunsch auch an den Heilpraktiker zurück, geben diesem dann aber die korrekten Medikamente zur Aushändigung an den Patienten und überwachen die korrekte Durchführung der Behandlung“, berichtet Dr. Tobias Vogt. „79 Heilpraktiker arbeiten in Kalkutta und Howrah mit uns zusammen. Besonderen Wert legen wir auf deren Schulung.“ Tuberkulose – eine Krankheit, der wir nicht nur am Welttuberkulosetag unsere Aufmerksamkeit schenken sollten…