Kinderlähmung, Taubstummheit und Tuberkulose

Das schwere Schicksal von Gorak – aufgeschrieben von Langzeitarzt Dr. Tobias Vogt aus Kalkutta

Ich heiße Gorak und bin 45 Jahre alt. Ich bin seit meiner Geburt taubstumm. Ich habe es inzwischen zu einer Perfektion darin gebracht, mich mit Gesten zu verständigen. Wenn mein Gegenüber ein bisschen Gebärdensprache kann, kann ich alles ausdrücken, was ich möchte. In meinen jungen Jahren bin ich zudem an Kinderlähmung erkrankt. Diese Krankheit gab es damals noch oft in Indien, und seitdem sind meine Beine gelähmt. Ich kann nicht stehen und nicht laufen. Ich kann über den Boden krabbeln und habe auch darin einige Fertigkeiten entwickelt. Ich kann mich an einem Stuhl hochziehen und mich auf diesen Stuhl setzen.

In dem Tuberkulose-Krankenhaus in Kalkutta, das von indischen Ärzten geführt wird und in dem manchmal auch die German Doctors vorbeischauen, gehöre ich zum Inventar. Das zu sagen, ist für mich ziemlich bitter. Es ist die fünfte Tuberkulose-Erkrankung meines Lebens, die mich auch zum fünften Mal wieder in dieses Krankenhaus geführt hat. Ich komme aus sehr ärmlichen Verhältnissen und habe mein Leben lang kein Geld verdienen können, denn es gibt genügend gesunde starke Männer, die jeglichen Arbeitsplatz besetzen. Niemand würde mich mit meinen Lähmungen einstellen. Ich habe eine Schwester, die gelegentlich einmal nach mir sieht. Alle meine fünf Behandlungen habe ich im Krankenhaus durchgeführt, denn eine ambulante Behandlung ist für mich einfach zu schwierig. Ich müsste ständig zu einem Tuberkulose-Stadtteilzentrum krabbeln, um jeweils für ein oder zwei Tage Medikamente zu bekommen, und das über viele Monate. Das schaffe ich aufgrund der Folgen der Kinderlähmung einfach nicht. Außerdem geht es mir ja auch nicht besonders gut. Der Husten und das Fieber tun ihr übriges.

Warum ich so häufig Tuberkulose bekommen habe, weiß keiner so richtig zu sagen. Die Ärzte nennen das Medikamentenresistenzen, aber was soll man sich darunter vorstellen. Natürlich ist es bei uns zu Hause extrem beengt. Einer wie ich steckt jemand anderes an. Der muss dann unter Behandlung und führt sie vielleicht nicht regelmäßig durch. Wenn ich dann gerade wieder gesund bin, steckt mich dann der andere wieder an, und so geht es in unserer Baracke schon seit Jahren hin und her. Im Krankenhaus kenne ich jeden Patienten und jeden Winkel. Nur das Wasserholen ist etwas schwierig für mich. Auf unserer Station gibt es keinen Wasserhahn, und man muss raus in den Garten – ich muss eine ziemliche Strecke krabbeln, bis ich an den Wasserhahn unseres Krankenhauses komme… Das Essen hier ist sehr einfach. Wir bekommen nur einmal im Monat Fleisch. Wir sind mit 20 Männern auf einer Station. Es gibt nur eine Krankenschwester für das ganze Krankenhaus mit seinen 55 Patienten. Die indischen Ärzte machen oft lange Mienen und murmeln: „Wir haben kein Geld.“

Dieses Krankenhaus gehört leider nicht den German Doctors, und ich weiß, dass sie manches gerne ändern würden, aber es geht nicht. Neulich hat der lange weiße Arzt zu mir gesagt: „Ich weiß, dass Sie hinter der Maske Ihrer Taubstummheit und ihrer Polio-Lähmungen ein ganz kluger Kopf sind. Wahrscheinlich verwechseln viele bei Ihnen die Tatsache, dass Sie nicht hören und nicht sprechen können, damit, dass Sie keine gute Auffassungsgabe haben, aber ich habe gemerkt, wie genau Sie alles wahrnehmen. Und Sie leisten sich auch in der Behandlung keinen einzigen Fehler wie manche andere Patienten, die selbst im unserem Krankenhaus noch Alkohol trinken.“ Ja, mein Geist ist frisch und schnell und leistungsfähig, aber diese Taubstummheit und die Kinderlähmung haben mein Leben arg belastet. Hoffentlich überlebe ich diese medikamentenresistente Tuberkulose. Den meisten Menschen ist mein Leben keinen Pfifferling wert. Aber die deutschen Ärzte achten auf mich, das weiß ich.