Zwischen Karaoke und Krankheit

Ein Bericht von Dr. Elisabeth Roeling über ihren Einsatz auf Mindanao

Endlich auf den Philippinen gelandet. Nach 24 Stunden Flug stehe ich am Flughafen in Davao. Ich bin umzingelt von der Familie einer Philippina, die mir bereits Hilfe zugesichert hat, sollte mein Fahrer nicht kommen. Doch schon nach wenigen Augenblicken höre ich „German Doctors?“ und sehe einen sympathischen Einheimischen zielstrebig auf mich zugehen. Kein Wunder, ich bin die einzige Europäerin des Fluges aus Singapur auf die Insel Mindanao.

German Doctors Philippien

Ausblick vom doctor’s house

Los geht’s also und nach ca. 3 Stunden Fahrt durch eine traumhafte Berglandschaft komme ich in Buda an: Ein direkt am Highway liegendes, langgezogenes Dorf mit obligatorischem Basketballfeld in der Mitte. An der Bushaltestelle des Ortes biegen wir ab zum Buda Community Health Care Center, einem flachen, gelbgestrichenen Gebäude mit rotem Dach. Einhundert Meter weiter liegt das Doctors House, wo die übrigen German Doctors mich freundlich in Empfang nehmen. Es gibt eine große Wohnküche, 3 separate Zimmer und eine richtige Dusche! Die große Überraschung ist der Blick zur Hintertür in den „Garten“: Umgrenzt von einer kleinen Steinmauer gibt es eine Grünfläche mit Bank, dahinter plätschert ein Fluss…ganz schön schön.

German Doctors Unterkunft

Das Doctor´s House – Meine aktuelle Unterkunft

Ich bin jedoch kaum angereist, da geht es direkt zu Pater Franco. Der italienische Mönch bietet in diesem doch sehr abgelegenen Örtchen eine derart leckere Pizza an, sodass direkt klar ist, hier war ich nicht das letzte Mal. Schon während des Essens fallen mir die Augen zu. Mit der Zusicherung, ich bekäme am Morgen eine ausführliche Übergabe, schlafe ich später erschöpft ein.

Am nächsten Morgen geht dann alles ganz schnell. Ca. 3/4 der aktuell um die 40 stationären Patienten sind Kinder und Neugeborene. Meine Vorgängerin sprintet um halb 8 mit mir durch das Zimmer, mir fliegen Begriffe wie Typhus, Dengue-Fieber, Amöbiasis etc. um die Ohren – und schon ist sie verschwunden, das Flugzeug wartet nicht…

Unterkunft German Doctors

Wohnzimmer und Küche

Um kurz nach acht beginnt die reguläre Visite, bestehend aus Hebamme, Krankenschwester, Diätassistentin, dem philippinischen Kollegen Rudolfo und den German Doctors. Ich weiß (gefühlt) einfach nichts… Kurvenaufbau, ärztliche Anordnungen, die grundlegensten Abläufe muss ich erfragen. Alles läuft natürlich auf Englisch – philippinischem Englisch genauer gesagt… Für einen kurzen Moment überrollt mich eine Welle der Verzweiflung, dann aber merke ich, mit welcher Engelsgeduld mir zur Seite gestanden wird. Die Schwestern wie auch Rudolfo führen mich durch die Visite, zeigen mir an welchen Stellen ich anordnen/dokumentieren muss und helfen mir insbesondere bei Themen, bei denen mir die klinische Erfahrung abhanden kommt: „Wie lange und womit behandle ich Typhus?“, „Wann muss ich an Denguefieber denken und wie oft kontrolliere ich dann die Thrombozyten?“, „Wie genau läuft der Nahrungsaufbau bei SAM- (severe acute malnutritio) und MAM- (moderate acute malnutritioni) Kindern ab?“. Natürlich hat man vorher versucht, sich alles anzulesen, aber es ist ein wenig wie der Arbeitsbeginn nach dem Studium. Auf die klinische Realität können Bücher einfach schwer vorbereiten…Wenn es um die Entlassung eines Kindes geht, kristallisiert sich schnell eine zentrale Frage heraus: Wie weit entfernt lebt die Familie, zu Fuß, per Motorrad? Ist eine Verlaufskontrolle überhaupt möglich? Fragen, die für meine Anamnesen bisher von geringerer Bedeutung waren.

Krankenhaus auf Mindanao

Visite

Schließlich ist das letzte Kind gesehen, schon geht es weiter. Entlassbriefe müssen geschrieben werden (vorher geht kein Patient nach Hause) und die U-Untersuchungen stehen an. Nach sieben Entlassungen und 3 U-Untersuchungen ist es halb 12. Mir schwirrt der Kopf. Das war also die IPD, das inpatient department.

Fehlt ergo die OPD, das outpatient department. Seit 8 Uhr sitzen in der Ambulanz die Patienten und warten. Sie sind bereits gewogen/gemessen, die Vitalparameter standardmäßig erfasst. Ein Teil der Zeit wird mit health education durch die Schwestern und Hebammen überbrückt. Aber ansonsten heißt es: warten…auf mich, die ich natürlich gerade am ersten Tag für alles länger brauche, als mir lieb ist. Die nächste halbe Stunde verbringe ich damit, zumindest 2-3 Kinder anzuschauen. Zur Seite steht mir Maricor, meine philippinische Übersetzerin und Kinderkrankenschwester aus Leidenschaft. Sie ist einer der Lichtblicke an diesem ersten Tag und ich bin beeindruckt, wie präzise sie mit wenigen Fragen das jeweilige Problem erfasst und mir übermittelt.

Team in Buda

Das Schwesternteam, inklusive Nachwuchs

Punkt 12 heißt es jedoch Mittagspause. Ein sehr schmächtiges Neugeborenes wird noch angeguckt, der Rest der Patienten wird jedoch ebenfalls zum Mittagessen geschickt und soll um 13 Uhr wiederkommen. Etwas verwirrt mache ich mich auf den Weg, 10 Meter durch die Halle, zurück auf die Station. Hier warten die ersten Laborwerte zum Abzeichnen auf mich. Danach werde ich zum Doctor’s House beordert, da seien schon die anderen und warteten mit dem Mittagessen. Es ist frisch von der Küche zubereitet, genau wie das Abendessen. Auch daran muss ich mich erst gewöhnen. Es gibt immer 2x pro Tag eine warme Mahlzeit – und immer Reis. Mein Glück: ich mag Reis!

13:30 Uhr geht es weiter. Maricor hat bereits die ersten Patienten bzw. deren Begleiter interviewt, sodass wir relativ zügig vorankommen. Relativ, da ich gerade in den ersten Tagen die simpelsten Wörter im Dictionary nachgucken muss „grobblasige Rasselgeräusche“, „feuchte Schleimhäute“, „Trommelfell“…alles Vokabeln, die meinem Schul- und Urlaubsenglisch abgehen. Aber auch hier bringt mir Maricor eine nicht enden wollende Geduld entgegen. Um kurz vor sieben haben wir es endlich geschafft. „Yes, we made it!“ Ziemlich erschlagen erreiche ich das Doctor’s House, wo ich von den anderen German Doctors bereits zum warmen Abendessen erwartet werde. Puh, der geplante Gang durchs Dorf muss dann wohl ausfallen, es ist schon dunkel.

Kleine Patienten auf den Philippinen

Mit kleinen Dingen kann man viel erreichen

Die nächsten Tage und Wochen sind vom Ablauf im Wesentlichen gleich. Ich bin weiter häufig die Letzte am Mittagstisch, aber langsam eigne ich mir einen Hauch von Routine an. Meine anfänglichen Fehler bei der Schreibweise des Datums (statt 20.04.2015 : 04/20/2015) werden seltener und der Redeschwall im Rahmen der Patientenbefragung bekommt immer mehr Bedeutung: kalibanga – Durchfall, kalintura – Fieber, ubo – Husten, sacket – Schmerzen, ganz wichtig auch purga – Wurmkur. Alle Kinder ab 1 Jahr werden einmal jährlich entwurmt, zusätzlich erhalten sie alle 6 Monate Vitamin A . Es dauert entsprechend nicht lange, bis die Schwestern mir den ersten Ascaris (Spuhlwürmer) präsentieren. Lecker ist anders, aber sehr einprägsam…

Wie in Deutschland kehren bestimmte Krankheitsbilder immer wieder. Gastroenteritis und obstruktive Bronchitis stehen auch hier oben auf der Liste. Daneben findet man aber auch die Krankheiten, die man sonst kaum zu Gesicht bekommt: Typhus, Hepatitis A, Tuberkulose, SAM. Ein Teil der Krankheiten präsentiert sich in fortgeschritteneren Stadien als bei uns üblich, oder deutlich gehäufter. Ausgedehnte Verbrühungen/Verbrennungen sind an der Tagesordnung, ebenso teils monströse Abszesse. Letzteres ist vor allem dadurch bedingt, dass die Eltern oft ganze Tagesreisen zurücklegen müssen, um das Krankenhaus zu erreichen. Bei starkem Regen sind die Wege unbegehbar, die medizinische Versorgung somit schlicht nicht zugänglich.

Wurmkur German Doctors

endlich darf der kleine Patient nach Hause

Generell hängen Hautkrankheiten, Hygiene sowie der Kontakt zu verschiedensten Noxen (Insektenschutzmittel, offene Feuerstellen im Haus) eng zusammen. Superinfizierte Hautläsionen, Ekzeme, Flohstiche, Impetigo, Tinea, Skabies – häufig ein buntes Mischbild, bei dem nicht mehr richtig klar ist, was war zuerst da. In der Folge entstehen oft weitere Probleme, eine Streptokokken-assoziierte Glomerulonephritis ist keine Seltenheit.

Abszesse und Verbrennungen liefern den Anlass, sich minimalchirurgisch zu betätigen. Für die Sedierung mit Diazepam und Ketanest holt man sich einen der Kollegen dazu. Improvisation ist gefragt. Zur Abszessdrainage verwende ich nasogastrale Sonden, für die Verbrennungen steht das gute alte Sulfadiazin zur Verfügung…

Ein weiterer Punkt für den emergency room sind die täglich hereinschneienden Motorradunfälle nach dem Motto „Wie viele Leute passen auf ein Motorrad und wer kann am schnellsten damit fahren“. Diese Unfälle müssen oft direkt weiter geschickt werden. Bei offen liegendem Gelenkknorpel und Brüchen kommt auch mein philippinischer Kollege, den ich zum Nähen dazu hole, an seine Grenzen. Er ist darin Meister und gerade bei Kindern tue ich mich schwer, meine vergrabenen Nähkünste wieder aufzufrischen.

Gesundheitsschulung auf Mindanao

Health education – Wartezeit sinnvoll genutzt

Ebenfalls Neuland sind die 36 Stunden Dienste, 7 Stück an der Zahl in meinen 6 Wochen. Hat man Dienst, versorgt man ab 17 Uhr alles, was notfallmäßig aufschlägt, klein und groß. Dies stürzt meinen „Erwachsenen“ Kollegen und mich regelmäßig in diverse Bedrängnisse. Teilweise erscheint es wie verhext: Ich sehe kein einziges Kind, während er regelmäßig pädiatrische Notfälle betreuen muss. Generell gilt aber: Kommt man nicht weiter, holt man sich den „Spezialisten“ aus dem Bett. Der gute alte Herold erlebt eine Renaissance und wird in diesen Zeiten neben dem blue book zum treuen Begleiter. Im gesamten Zeitraum sehen wir nur einen frischen Herzinfarkt… Natürlich in meinem Dienst, klassisch mit Brust- und Armschmerzen. So etwas ist zunächst eine reine Verdachtsdiagnose. Ein Labor gibt es nachts nicht, ebenso kein EKG. Ergo behandelt man zunächst symptomatisch mit ASS und Nitroglycerin und steckt den Patienten mit Notfallplan für die Schwestern ins Bett.

Ich schlage mich also durch die verschiedensten Krankheitsbilder und irgendwie geht es ganz gut. Es gibt jedoch eine Patientengruppe, an denen ich verzweifle: Kinder mit angeborenem Herzfehler. Während in Deutschland ein Herzgeräusch alltäglicher Vorstellungsgrund in der kardiologischen Ambulanz ist, fängt hier bei jedem Herzgeräusch das Kopfzerbrechen an. „Wie wahrscheinlich ist es, dass es sich nur um ein akzidentelles Geräusch handelt?“ Ist das Geräusch >2/6 wird es nicht einfacher: „Gibt es weitere Symptome?“ „Wie dringlich muss ich das Kind vorstellen?“ Es gibt genau 2 Slots pro Jahr für kostenfreie Herz-Operationen über die German Doctors. Wenn also irgendwie die 1000 Pesos für ein Echo aufgebracht wurden und die Diagnose steht, heißt das nicht, dass das Kind geheilt wird. Dann hat man eben regelmäßig ein Kind vor sich stehen, dass prinzipiell fit, der Herzfehler also noch kompensiert ist und dass einen nach philippinischer Lebensweise freundlich anstrahlt. In diesem Moment mit dem Wissen zu leben, dass diesem Stöpsel vielleicht noch 3-4 Jahre bleiben gehört zu den harten Seiten der philippinischen Zeit.

Patient German Doctors

Unterernährung – ein großes Thema

Die alleinige Verantwortung für alles zu tragen, was pädiatrisch in diesem Krankhaus auf der Tages- und Nachtordnung steht, wiegt schwer. Jede Entscheidung, die man trifft, trifft man weitestgehend alleine und muss damit leben, oft nicht zu wissen, war es wirklich die Richtige. Dazu gehört auch, dass man alleine damit klar kommen muss, wenn Kinder sterben. Auch wenn man mehrfach alles durchgeht und zu dem Schluss kommt, man hätte das Kind nicht retten können, bleibt im Hinterkopf der nagende Gedanke „Und wenn doch?“ Hätte jemand Erfahreneres vielleicht noch einen Ausweg gewusst?“ Zu meinem Glück passiert es in meiner Zeit nur drei Mal. Insgesamt lernt man die persönlichen Grenzen besser kennen. Man darf über allen Zweifeln dabei nicht die Kinder vergessen, denen man geholfen hat und die gesund nach Hause entlassen werden können. Das hat man dann ja auch alleine geschafft.

Insbesondere die letzten 2 Wochen vergehen wie im Flug. Zusammen mit meinen beiden German Doctors-Kollegen organisiere ich eine große Abschiedsfeier für das Team mit Pizza von Pater Franco, legendärem Mangofloat aus der Küche, Bier und Cola. Der Andrang ist gewaltig, knapp 40 Angestellte kommen, teils auch mit Familienmitgliedern – das ist so Brauch. Wir werden bereits mit diversen Coversongs und live-Musik begrüßt, oft kunstvoll umgeschrieben auf die German Doctors… Karaoke ist quasi Volkssport auf den Philippinen, und sie haben es drauf. Eine derartige Performance bekommt man nicht alle Tage und wir sind entsprechend gerührt. Nach knapp 3 Stunden fröhlichem Zusammensitzen ist alles vorbei. Zumindest die Philippinos, die ich kennengelernt habe, gehen früh ins Bett und stehen zwischen 5 und 6 Uhr mit der Sonne auf.

Karaoke auf den Philippinen

Abschiedsfeier – ohne Musik geht in Buda nichts

Nach dem Karaoke-Fest geht alles im Zeitraffer. Nach und nach reisen die Kollegen ab, die vor mir da waren und die entsprechende Ablösung trifft ein. Auf der Arbeit versuche ich kurzfristig so viele Verlaufskontrollen wie möglich einzubestellen. Oft genug ist jedoch klar, dass erst meine Nachfolgerin Katrin das Kind wieder sehen wird. Ständig frage ich mich „Hab ich mich klar genug ausgedrückt ?“ Versteht sie, was ich gemacht und mir dabei gedacht habe?“ Katrin selber erreicht Buda durch eine Flugverzögerung erst abends um 21:00 Uhr. Noch bis nach 1 Uhr gehen wir Kurven und Patienten durch, was findet man wo und wie laufen Anordnungen etc. Ich will ihr den Einstieg erleichtern, aber irgendwann ist Schluss und wir sinken erschöpft ins Bett.

Am nächsten Morgen heißt es Abschied nehmen. Noch ein letztes Foto mit Maricor und ich steige in den Jeep – wie immer wird die Fahrt so ökonomisch genutzt wie möglich: Mit mir im Wagen sitzen Patienten zum Röntgen in Davao, Teile des Küchenteams für den Wocheneinkauf und verschiedenste Güter. Als wir die Vororte von Davao erreichen wird es nochmal spannend: Wir haben einen Platten. Strategie? „Wir pusten das Ganze immer wieder auf und schauen, wie weit wir kommen“. Auch hier, Improvisation ist alles und mit einigen Zwischenstopps erreichen wir auf diese Weise rechtzeitig den Flughafen. Ich schüttele dem Fahrer zum Abschied die Hand, kurze Zeit später hebe ich ab. Ayo ayo!! Alles Gute und auf Wiedersehen !

Kinder auf Mindanao