So etwas habe ich noch nie gesehen

Teil 7 des Einsatzberichts von Dr. Barbara Müllerleile aus Kalkutta

Um 8 Uhr kann ich nicht mehr schlafen, daher gehe ich auf das Dach. Die Sonne ist aufgegangen und es weht ein kühles Lüftchen. Ein schöner Tag. Zuerst frühstücke ich mit Elisabeth, einer Ärztin aus Deutschland. Nach dem Frühstück gehen wir ins Shree Jain Hospital und machen Visite auf der Tuberkulose-Station. Das ist ein privates Krankenhaus, in das wir kritische Tuberkulose-Patienten einweisen. Wenn es ihnen besser geht kommen sie dann ins St.Thomas Home. Dieses Krankenhaus gehört den German Doctors deshalb sollen die Patienten so schnell wie möglich, d.h. wenn sie stabil sind, ins St. Thomas Home oder die Kinder ins Pushpa Home überwiesen werden. Nach der Visite fahren wir mit der Fähre über den Hoogli nach Kalkutta zum Einkaufen. Direkt im Zentrum ist der New Market. Wir gehen noch in ein Café, was aus der Kolonialzeit übriggeblieben ist und trinken eine Limonade. Eine andere Welt. Dann geht es mit dem Taxi zurück nach Howrah. Ausnahmsweise mal ein entspannter Tag.

Ein anstrengender Tag in der Foreshore Road

Eine lange Schlange vor der Ambulanz ist hier normal

Der nächste Tag in der Forshore Road ist dann wieder heftiger: Zuerst habe ich 25 Kinder gestempelt. Dreien davon ging es gar nicht gut, also bekamen Sie eine rote Kappe. Dann 30 Männer und 30 Frauen. Blöd, dass nochmal die doppelte Menge ungestempelt da stand – teilweise seit drei Uhr nachts… Der Unmut war nicht zu überhören. Zu mir kam dann ein vier Wochen altes Kind, das völlig abgemagert mit Husten auf dem Arm seiner Mutter hing. Klar das geht in die Childrens-Ward. Aber die Mutter will nicht. Sie hat noch drei Kinder. Kein Problem, die dürfen mit. Sie muss aber erst nach Hause, den Mann fragen und kommt dann mit den anderen Kindern zurück. Hoffen wir´s… Ich gebe ihr für das abgemagerte Kind Medikamente mit, falls sie nicht mehr kommt. Das war sinnvoll, wie ich heute Abend festgestellt habe, nachdem ich Visite auf der Childrens-Ward gemacht habe. Anschließend kommt ein sehr verlangsamtes 3-jähriges Mädchen; auch viel zu untergewichtig. Ich will es in die Neurologie ins Kinderkrankenhaus schicken, aber das ist schwierig. Also auch Childrens-Ward und von dort aus wurde weiter organisiert.

Ergreifende Patientenschicksale

Kein seltener Anblick auf Kalkuttas Straßen

Dann kommt ein junger Mann, Anfang 20, mit einem Tumor am Hals und total abgemagert mit seiner Mutter zu uns. Ich sehe, dass dort schon eine Probe entnommen wurde. Im Befund steht, dass Malignität nicht auszuschließen sei. Ich versuche die beiden wieder ins Krankenhaus zu schicken, aber sie wollen nicht. Sie haben gehört, dass German Doctors sehr gute Medizin haben und deshalb sind sie hier. Schmerzmittel habe ich für ihn, aber ansonsten leider nix. Es weinen beide herzzerreißend, daher versuche ich sie nochmals mit Begleitung ins Krankenhaus zu lotsen. Leider ohne Erfolg. Also am Donnerstag zum Langzeitarzt. Anschließend kommt ein Patient, dem der Krebs schon aus dem Mund wächst. So etwas habe ich noch nie gesehen. Er geht ins Medical College, das nächstgelegene Krankenhaus. Dann geht es normal weiter. Mit Zucker, Hypertonie, Kreuz- und Bauchschmerzen, bis ein junger Mann kommt, er hustet seit Monaten und ist sehr mager. Letzte Woche hatte ich ihn zum Röntgen und zur Sputum-Abgabe geschickt. Er hat eine ausgeprägte Tuberkulose. Zum behandelnden Arzt will er aber nicht und geht wieder. Um 15:30 Uhr sind wir fertig. Anschließend laufe ich die Andulroad entlang zurück zum Doctors House.

Ein Ausflug in die Sundarbans

Schon von Kindesbeinen an muss man für seinen Lebensunterhalt arbeiten

Heute sind wir um 6:30 Uhr an der Straße gestanden, Theda meine Kollegin und ich. Wir müssen um 8 Uhr in der Sunderstreet sein, weil wir an die Sundarbans mit Backpacker fahren. Zuerst haben wir kein ToTo gekriegt, weil keins kam dann sind wir zur 100 Feetstreet gefahren und von dort mit dem Taxi ins Fairlown, kurz einen Tee trinken, weil wir so früh waren. Um kurz vor 8 Uhr waren wir bei Backpackers. Es war wie üblich mit einigem Hin und her verbunden bis wir im Auto saßen. Mir ist schon, ehe wir ins ToTo stiegen aufgefallen, wie ruhig die Andulroad, an der wir wohnen, heute ist. Sogar der Hexenkessel Kalkutta war heute sehr ruhig. Man sieht Familien mit Kindern auf dem Bürgersteig schlafen. Manche schlafen auf Verkehrsinseln und dazwischen jede Menge Hunde. Wir werden gleich sehr offensiv angebettelt. Ich habe nur 5 Rupien klein doch die Dame hätte gerne etwas mehr, sie braucht Essen für die Kinder. Alle drei schlafen noch. Es geht dann los, Richtung Sundarbans Nationalpark, da lebt der Eisvogel und der bengalische Tiger. Die Fahrt dauert drei Stunden und ist genauso aufregend wie Taxifahren. Mir gefällt das gut. Unterwegs gibt es zum Frühstück Toast mit Salat. Dann kommen wir an die Fähre, die uns ins Ökodorf bringen soll. Es sind insgesamt drei Fähren. Nach der letzten werden wir auf ein ToTo verladen und über richtig holpriges Pflaster geht es zu unserer Unterkunft. Wir haben ein Bett und eine Art Hocker und viele Ameisen zu Gast, darüber hinaus eine normale Toilette und eine Dusche. Bisher waren alle Duschen, die ich gesehen habe, behindertengerecht. Ausräumen geht nicht, wegen der Ameisen. Wir stellen die Rucksäcke aufs Bett und wollen spazieren gehen. Nach zwei Stunden merken wir, dass wir uns völlig verirrt haben. Wir sollen um 16 Uhr eine Führung im Ökodorf haben. Das schaffen wir sicher nicht.

Eine Bootsfahrt durch die Mangrovenwälder

Die Mangrovenwälder sind sehr eindrucksvoll

Irgendwann kommen wir an einem Anleger. Dort gibt es einen Kiosk, was zu trinken und ein ToTo. Leider versteht niemand, was wir wollen. Erst als jemand geholt wird, ist klar, dass wir ins Ökodorf wollen. Zum Glück hat Theda die Nummer von Backpacker in Kalkutta dabei. Wir rufen an. Unser Guide ruft uns zurück und will wissen, wo er uns abholen kann. Wenn wir das bloß wüssten… Wir geben einem Mann das Telefon. Nachdem er sich ein bisschen gewehrt hat, nimmt er es und schickt uns in die richtige Richtung.  Nach fünf Minuten sind wir am Ziel. Die Führung durchs Ökodorf ist sehr interessant. Es gibt nur Solarstrom. Jedes Haus hat einen Teich in dem Königskrabben und Fische gezüchtet werden. Außerdem wird Reis angebaut. Nach der Führung gibt es eine kleine Bootsfahrt. Wir sehen Krebse und Schlammspringer. Anschließend gibt es Tee und Essen. Später geben die Inselbewohner noch ein Konzert für uns. Ich bin müde und will ins Bett. Sonntag ist um 5 Uhr Aufstehen angesagt. Wir wollen den bengalischen Tiger schwimmen sehen. Wird aber nix. Warane, Vögel, Affen und Rehe sehen wir. Wir sind den ganzen Tag auf dem Schiff und fahren durch Mangrovenwälder. Ab und zu legen wir an um Vögel zu sehen. Essen wird an Bord gekocht. Gespült wird im Gangesdelta.

Die Arbeit geht weiter…

Heute wieder Tikia Para, es ist wirklich eine sehr einfache Ambulanz. Ich arbeite heute mit Tobias, dem Langzeitarzt vor Ort. Er managt Kalkutta seit 2003 und weiß fast alles über die Region und unsere Patienten. Inzwischen kann er Hindi und Bengali sprechen. Eine Patientin kam mit einem Blutzucker von 500 in die Ambulanz, um ihre Medikamente zu holen. Bei uns kommt in solchen Fällen der Notarzt. Hier regt das keinen sonderlich auf. Nach der Arbeit bin ich am Kanal entlang gegangen. Das war ganz schön und erholsam, obwohl es 38 Grad warm war. Ich habe mich allerdings mittlerweile daran gewöhnt. Ich bin gespannt, was in den nächsten Tagen in Indien noch auf mich zukommt…