Abschied aus Kalkutta
Teil 9 des Einsatzberichts von Dr. Barbara Müllerleile aus Kalkutta
Heute gibt es nur noch einen kurzen Bericht, weil mir die Arbeit langsam zur Routine wird. Heute stand wieder Forshore Road auf dem Programm. Seit der Langzeitarzt wieder aus dem Urlaub zurück ist, stempelt er selbst. Schade, ich hatte schon immer so einen Eindruck was so auf mich zukommt, wenn ich die Leute gestempelt habe. Wahrscheinlich geht es ihm genauso.
Er hat glaube ich, echt gute Nerven. Jede Woche ein neuer German Doctor, wieder die gleichen Fragen, wieder jemand der das Rad neu erfinden will. Ich glaube er will einfach, dass die Ambulanz läuft. Heute hat er mich gefragt, wie viele Patienten ich behandeln will.
Ich habe 40 gesagt. Als er heute um 14.30 Uhr gegangen ist, sind die Dolmetscherinnen im Dreieck gesprungen, weil noch so viele Patienten da waren. Ich hatte dann insgesamt 62 Patienten und Patientinnen. Wir waren auch erst um 16.30 Uhr fertig. Die Dolmetscherinnen haben einen langen Weg nach Hause und sind froh, wenn wir früh zusammenpacken können. Meist sind sie verheiratet und müssen noch Abendessen kochen. Heute habe ich gesagt, dass alle Patienten drankommen, die einen Stempel haben. Es geht nicht, dass Leute, die einen Stempel bekommen haben, nicht behandelt werden. Der Stempel ist ja ein Versprechen. Eigentlich fanden sie es okay, dass niemand weggeschickt wird, aber ihr eigener Feierabend ist ihnen auch wichtig. Nach der Arbeit bin ich am Kanal entlanggelaufen. Dann gab es Abendessen. Jetzt bin ich müde. Morgen geht es nach Chengail.
Zwei Ärzte für Chengail
Heute war ich wieder in Chengail. Da geh ich eigentlich am liebsten hin wegen der morgendlichen Zugfahrt von 45 Minuten. Es ist ein Vorort von Howrah und ein bisschen ländlich. Ich stelle heute einen Patienten vor und hoffe, die Nichtmediziner haben Verständnis. Für mich ist es wichtig darüber zu schreiben, damit ich es nicht vergesse. Angefangen hat es aber damit, dass sich meine junge Kollegin schwallartig in ihrem Zimmer übergeben hat. Sie ist heute ausgefallen. Für Chengail heißt es „only two Doctors“. Nach dem Frühstück bin ich runtergegangen um rechtzeitig im Zubringerbus zum Bahnhof zu sein. Da kommt mir der Langzeitarzt entgegen und sagt mir, dass das Kind von gestern schwer krank ist. Ich hatte gestern ein kleines 2 Jahre altes behindertes Mädchen mit ihrer Mutter auf die Childrensward eingewiesen. Jetzt hat es hohes Fieber und eine deutliche Nackensteifigkeit. Verdacht Meningitis, dann ab ins Kinderkrankenhaus. Dann sind wir erst mit unserem Bus und dann mit dem Zug nach Chengail gefahren. Dort standen ungefähr 30 Kinder, 60 Männer und 80 Frauen. Der Langzeitarzt hat 70 gestempelt ich habe noch 7 rausgefischt die richtig krank aussahen.
Mein erster Patient war ein 33-jähriger Mann, 34 kg bei ungefähr 170cm Körpergröße. Er hat keine Luft gekriegt bei bekannter Lungenfibrose. Sein Druck war niedrig, Spastik über der gesamten Lunge. So kam er mit seinem Bruder in die Ambulanz gelaufen. Bei uns ist das eine klare Notarztindikation. Ich habe ihm dann alles gegeben, was er braucht. Nach einer Stunde sagte er, es ginge Ihm besser. Ins Krankenhaus wollte er nicht. Also ist er mit einer Sättigung von 77% gegangen. Er ist Rikschafahrer. Insgesamt habe ich heute 64 Patienten gesehen, bei brüllender Hitze von Mosquitos umschwärmt. Dazu hat heute noch Hanoman, der Affengott Geburtstag. Es wird gefeiert seit 10.00 Uhr in einer unerträglichen Lautstärke, direkt vor der Ambulanz. Mir tun inzwischen die Zähne weh vom Lärm. Anschließend hatte ich in Tikia Para noch mal einen echt harten Tag. Ich war wieder mit dem Langzeitarzt dort, Nora war immer noch krank. Der Langzeitarzt stempelt immer selber und ich renne durch die Reihen mit den roten Kappen und sortiere die richtig Kranken raus. Heute fand ich vor allem ganz kleine Babys, unter einem Monat, die nur abgenommen haben, weil die Mütter oft nicht wissen wie oft sie stillen sollen.
Kein Platz für Dekadenz
Tobias, der Langzeitarzt bekommt auch die ganz komplizierten und langwierigen Patienten aus allen Ambulanzen. Wenn er 70 Patienten stempelt, bleiben mir 50, weil er um 14.30 Uhr geht um Visite zu machen. In der Regel ist das auch gut zu schaffen. Heute gab es aber weder Ventilator noch Licht in Tikia Para. Die Sonne brennt auf das Dach und es ist echt heiß. Meine Dolmetscherin versinkt in Lethargie und ich muss mich zu jeder Blutdruckmessung zwingen. Vorne die laute Straße, hinten die Bahn. Eigentlich reicht es. Aber jetzt kommt der Generator. Wir haben Licht und einen Ventilator und einen Höllenlärm von drei Seiten. Nach zwei Stunden geht dem Generator der Sprit aus. Jetzt ist es wieder Dunkel und heiß. Egal, weitermachen. Der Fahrer des Ambulanzfahrzeugs wird von meiner Dolmetscherin abgestellt, mir mit einem laminierten Blatt Luft zu zu fächeln. Das ist allerdings zu viel des Guten und ich bitte Ihn, damit aufzuhören. Ich scherze, ich sei nicht die Königin von England. Da lachen alle laut und bringen mir heißen Tee. Ich bin froh, als der letzte Patient um 16.00 Uhr verschwunden ist. Morgen geht es zum letzten Mal zur Forshore Road. Mit einem weinenden und einem lachenden Auge werde ich dort meine letzten Handgriffe tätigen und mich anschließend wieder auf die Heimreise begeben. Doch die Erinnerungen an diesen Einsatz werde ich mit nach Hause nehmen.
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