Kalkutta: Eine Stadt der Freude?
Ein Bericht von Einsatzarzt Dr. Joachim Zeller aus Kalkutta
Mit großer Vorfreude fahre ich zum dritten Mal als German Doctor nach Kalkutta und auch diesmal begleiten mich die Fragen: Was erwartet mich? Werde ich der Aufgabe gerecht? Warum tue ich das Ganze? Der erste Tag: Spannung, Freude, etwas Aufregung. Diesmal bin ich mit dem mobilen Ärzte-Team an verschiedenen Einsatzorten in der so genannten Stadt der Freude eingesetzt. Schon nach kurzer Zeit bin ich mitten drin im Ambulanzalltag und es läuft. Am Abend bin ich erschöpft, zufrieden, aber es steht auch die Frage im Raum: Bin ich den Patienten gerecht geworden; auch denen mit all over body pain, weakness, oder der jungen Mutter, die am Ende weinend dasitzt und Kripa, meine Übersetzerin sagt: „It’s a family problem.“
Heute geht’s mit dem Zug zur Ambulanz nach Chengal durch eine grüne saftige Landschaft. Die Luft ist etwas frischer, aber nur scheinbar sauberer. Ein Bub wartet bei Thalassämie auf die Splenectomie, aber die Familie kann die Kosten nicht leisten. Langzeitarzt Tobias Vogt per Handy angerufen, er wird es richten. Eine junge Frau mit Asthma kommt fünf Tage zu spät zur Überprüfung und Abgabe der neuen Medikamente. Warum? Sie hatte kein Geld für den Zug… Jetzt sitzt sie adrett und schick gekleidet vor mir. Fünf Minuten für eine Stunde Zugfahrt und alles Geld ist weg. Erschöpft geht’s am Nachmittag mit dem Auto im Stau zurück zur informativen Tuberkulose-Visite mit Dr. Mita im Ärztehaus. Mein Studiumswissen muss ausgegraben werden, und das Internet hilft mir bei cerebraler Zystizerkose weiter. Schwerkranke Kinder, lachend und diszipliniert „leben“ oft mehr als ein Jahr stationär hier ohne Eltern im Pushpa Home, der Tuberkulose-Kinderstation im Ärztehaus der German Doctors. Dies ist wirklich ein Ort der Freude, wenn man die Erfolge sieht. Und es wird ein Tag der Freude, wenn die Kinder beim Ausflug mit den Doctors in den Zoo singen und klatschen. Wer hilft hier wem?
Der Ambulanz-Standort Topsia direkt am Abwasserkanal nimmt einem den Atem – in jeder Hinsicht. Ein herzkranker Bub kann nun, nach dem relativ neuen indischen Gesetz, das die Kostenübernahme für Herzoperationen bei Kindern bis zum 18. Lebensjahr zusichert, operiert werden, und wir können ihn zur OP schicken. Er wird sicher ein besseres Leben haben und führen können. Heute geht’s weit raus aufs Land – über eine Stunde Fahrt. Was für ein Tag: Heftiger Monsun, grauschwarzer Himmel, der Anschlag in Nizza – nur vermeintliches sauberes Grün. Da wo Menschen wohnen, kann auch die schönste Gegend zur Müll- und Dreckhalde werden. Wird die Welt mal wieder sauber, werden die Menschen irgendwann vernünftig? Besonders hier in Bijerat fällt auf, dass Patienten eine Tagesreise in Kauf nehmen, um von uns Hilfe zu bekommen. Dies liegt nicht nur an der kostenlosen medizinischen Versorgung, sondern auch an dem guten Ruf der German Doctors. Dies darf und muss auch einmal mit etwas Stolz an dieser Stelle erwähnt werden.
Am Ende der Woche gehen die Dinge leichter von der Hand und trotzdem kostet die Aufmerksamkeit und Sorge, allem und allen gerecht zu werden und nichts zu übersehen, viel Kraft. Nach langer Fahrt zurück vom Land im Endlosstau wird Kalkutta seinem Ruf als eine der Städte mit der höchsten Luftverschmutzung der Welt gerecht. Die Tuberkulose-Mundschutzmaske wird umgewidmet. Ab jetzt weiß ich: Mein lebenslanges Nichtrauchen war für die Katz und lebt man in Kalkutta, braucht es keine Studie, um zu wissen, dass die Lunge für eine solche Luft nicht gemacht wurde. Chronische Lungenerkrankungen stellen somit einen Großteil der Erkrankungen in unseren Ambulanzen dar. Gott sei Dank ist das Wochenende da. Es ist dringend nötig. Der indische Geist soll walten und ich wende mich Vivekanandas Lehre zu. In seinem Kloster Buri Math, einer Oase der Ruhe, sammle ich Kraft. „Every soul is devine“ – jede Seele ist göttlich. Zurück im Pushpa Home wird die Entspannung bei feuchtheißen 35 Grad unterm Moskitonetze mit zwei Ventilatoren verlängert.
„Daheim! “ – Abendessen, Bierchen und Diskussion mit den anderen. Bereit für die Woche, die kommt. Sonntägliche göttliche Seelen schlupfen in montäglichen abgemagerte, geschundene Körper. Größer können die Gegensätze nicht sein. Arm oder reich, wo ist die Grenze? Diagnostik und Behandlung, was ist vernünftig? Ein schwieriges Pflaster ist dieses Kalkutta – eben eine ganz besondere chaotische Stadt, übervölkert und nicht beherrschbar. Aber ist es wirklich eine Stadt der Freude? Für das hoffnungslose Chaos und seine Probleme gibt und wird es keine einfache Lösung geben. Dasselbe gilt für unsere Arbeit hier in den Ambulanzen; eine Lösung gibt es nicht; jeden Tag muss sich die Arbeitsweise vom Vortag bewähren – oder sie muss revidiert werden. Vielleicht ist der einzige gemeinsame Nenner hier die einfache Hilfe.
Gerade in unserer Ambulanz in der forshore road prallen inzwischen Wohlstandskrankheiten und Übergewicht auf armuts- und umweltbedingte Erkrankungen mit Unterernährung, Tuberkulose und COPD. Trittbrettfahrer springen auf, um Krankheits- und Medikamentenkosten zu sparen – ein home visit muss dann Klärung über die finanziellen Verhältnisse bringen. Die Lösung wird dann oft zur Gradwanderung.
Dies ist nur ein kleiner Ausschnitt meiner Eindrücke während meiner sechs Wochen mit den German Doctors in Indien – immer wieder wurde auch mit meinen Kollegen bei einem abendlichen Bier zusammen über die Widersprüchlichkeit der Stadt der Freude diskutiert. Auch das war ein schöner und wichtiger Teil meines Einsatzes für die German Doctors: Zusammengehören, zusammen diskutieren und hoffentlich zusammen etwas bewirken!
Schreiben Sie einen Kommentar