Einblick in viele Welten Teil 2

Ein Bericht von Einsatzärztin Dr. Susanne Arendt aus Griechenland

Dr. Susanne Arendt

Im Camp Nea Kavala, nahe Polykastro (60 km nordwestlich von Thessaloniki, nahe der serbischen Grenze) werde ich inzwischen bei meinen 2x wöchentlichen Besuchen sehr freundlich mit „kalhmera giatros“ begrüßt. Das Camp liegt im „Niemandsland“, wenn man von dem typischen LIDL-Flachbau in unmittelbarer Nähe absieht, und hat ebenfalls einen hohen Versorgungsbedarf. Dieser wird zum Teil durch eine große Zahl von Mitarbeitern der IOM und der griechischen Regierung gedeckt, jedoch besteht auch hier wieder ein Ärztemangel. Letzterer resultiert wohl u.a. aus einer erheblichen Unterbezahlung der Ärzte im öffentlichen Gesundheitssystem, gleichzeitig wird deutlich, dass die Flüchtlingskrise zu einer „Bereinigung“ des griechischen Arbeitsmarktes geführt hat. Viele junge Griechen haben damit jetzt schon für mehr als 6 Jahre einen Arbeitsplatz gefunden, der jetzt jedoch wieder gefährdet ist.

Gemaltes Bild eines Flüchtlings

Durch die häufigen Besuche und eindrucksvolle Erlebnisse ist mir Nea Kavala ans Herz gewachsen. So fand sich hier an einem Morgen eine junge Somalierin vor dem Tor des Camps, nach 40-tägiger Wanderung ohne Nahrungsaufnahme völlig entkräftet und zunächst nicht kommunikationsfähig. Später, fast wieder hergestellt, blieb noch eine Gangstörung, wahrscheinlich eine Folge der Überbelastung. IOM hat für eine Unterkunft und die Einleitung des Asylverfahrens gesorgt.

Spannend war auch die Erstdiagnose eines Diabetes mellitus bei einer 40-jährigen Frau mit vaginalem Juckreiz mittels Urinstreifen, irgendwann später gefundene, abgelaufene Blutzuckerstreifen zeigten einen Wert über 420 mg/dl. Nach einem stationärem Aufenthalt über 10 Tage wurde die Patientin mit einer intensivierten Insulintherapie entlassen. Überraschenderweise erhält die Patientin im Camp jetzt sogar eine individuelle Kost. Die hier jetzt erst begonnenen Impfungen sind dringend notwendig, haben doch viele Kinder nicht einmal eine Grundimmunisierung, wobei möglicherweise „nur“ die Impfbücher abhanden gekommen sind. Dringend erforderlich ist eine umfangreiche zahnärztliche Therapie, viele Kinder weisen entweder frühkindliche multiple Karies oder auch im Wechselgebiss bereits generalisiert Karies auf. Vor Ort  ist eine Schmerzbehandlung möglich, jedoch keine Sanierung. Daraus folgend, fehlen häufiger auch schon bleibende Zähne. Die gesetzliche Krankenversicherung deckt in Griechenland die Kosten für zahnärztliche Behandlungen für keinen ihrer Versicherten, außer in Notfallsituation sind sie immer eine private Leistung.

Für eine weitere Impfaktion fuhren wir 210 km Richtung Süden in das ARSIS Shelter von Makrinitsa, einem wunderschön gelegenen Bergdorf oberhalb der Küstenstadt Volos. Die außergewöhnlich schöne und familiäre Atmosphäre wirkt sich offensichtlich auch entspannend auf die UAM aus, die uns neugierig und sehr zuvorkommend begegneten. Vor Beginn der Impfungen mußte zunächst der Griechisch-Unterricht beendet werden, davon hätten wir auch profitieren können… Auf den langen Autofahrten stellte sich uns natürlich immer wieder die Frage nach dem Sinn, „2 Ärzte aus Deutschland fahren quer für Impfungen und Schulzertifikate quer durch Nordgriechenland“. Für jedes einzelne Kind oder Jugendlichen ist jetzt aber, der für uns selbstverständliche, individuelle Schutz in einer ohnehin schon schwierigen Situation gegeben. Zudem sind die Sozialarbeiter und Erzieher erheblich entlastet, mußten sie doch zuvor viele Einzeltermine mit teils langen Anfahrten realisieren, sodass unsere Hilfe hier gebraucht wird.

Die Flüchtlinge sind in Cotainern untergebracht

Durch die Alltagsroutine mit den wiederkehrenden Besuchen in den Camps sind jetzt auch Verlaufskontrollen möglich. Laborergebnisse können besprochen, EKG oder Rö-Bilder sind zu befunden. Konsequenzen der Therapien sind zu beurteilen, Änderungen oder Anpassungen werden möglich. Dennoch fehlt es oftmals an einfachen Dingen, so haben wir z.B. Urinstreifen gestellt, ebenso die zur Diagnostik notwendigen Becher.

Die Container

ARSIS leitet zwei weitere Shelter in Alexandroupolis, im äußersten Nordosten nahe der türkischen Grenze, 300 km von Thessaloniki entfernt. Dorthin führte uns ebenfalls eine umfangreiche Impfaktion, vom 6 Monate alten Baby bis 17-jährigen jungen Mann. Trotz (oder gerade wegen) der für uns unvorstellbaren Not und Leiden der vergangenen Monate auf der Flucht waren gerade die männlichen Impflinge ängstlich, hatten Ausflüchte oder brauchten mehrere Anläufe. Aber für sie alle galt letztlich „You did a good job.“ Die Shelter in Alexandroupolis (jeweils 1 Etage für
UAM und kleinere Kinder in einem älteren Haus) waren schwer auszuhalten, hat doch nur jeweils ein Raum Tageslicht. Eine Belüftung ist kaum möglich, die Räume, in denen gespielt und geschlafen wird, sind übervoll.

Sehr berührt hat mich die Situation einer 35-jährigen Afghanin mit einem ca. 5 cm großen Tumor der rechten Brust mit geschwollenen Lymphknoten in der rechten Achselhöhle. Eine probatorische antibiotische Behandlung blieb ohne Erfolg. Die mehrfach angeratene weitere Diagnostik hatte die Mutter von 3 Kindern im Alter zwischen 4 und 12 Jahren abgelehnt, da sich die Familie nach Ablehnung ihres Asylantrags zu Fuß auf den Weg nach Serbien machen wollte. Später habe ich erfahren, dass das aktuelle Ziel wohl Bosnien ist, da dort die Bedingungen besser seien.

Freundliche Begegnungen

Am kommenden Freitag werden wir noch das ARSIS Shelter in Kavala (150 km nordöstlich von Thessaloniki) für eine weitere Impfaktion besuchen. Dieses wird dann für mich der Abschluss von 6 Wochen sein, die mein Leben und Denken sehr bereichert haben.

In den Camps leben viele geflüchtete Kinder

Mehr als 6 Jahre nach Beginn der Flüchtlingskrise ist hier in Griechenland eine gewisse Akzeptanz der Situation spürbar. Da sich die politische Situation und die damit verbundenen Gefahren und Tragödien für die Geflüchteten immer wieder ändern, ist ein Ende der Krise nicht absehbar. Wie aus der Presse bekannt, liegt Griechenland momentan nicht mehr auf der Hauptroute, was einen Rückgang des Ansturms der hier ankommenden Geflüchteten vermuten läßt. Genaue Zahlen sind jedoch nicht bekannt. Trotz aller Widrigkeiten und unzähliger eigener Belastungen haben die Griechen das für sie mögliche geleistet, wofür für sie unbedingt unseren großen Respekt und unsere weitere Unterstützung verdienen.

Ausdrücklich danken möchte ich bei den 3 Damen (Annie, Marina und Georgia) im ARSIS Office hier in Thessaloniki, sie hatten für jede Frage immer ein offenes Ohr. Dany, ein aus dem Iran stammender Übersetzer, hat mich in viele Camps und Shelter begleitet. Durch seine Sprachkenntnisse in Farsi, Englisch (Master of English Literature), Griechisch sowie Grundkenntnisse in Arabisch und seit 5 Jahren hier lebend, hat er mir viele Fragen und Eindrücke gut erklären können. Hoffentlich erhält er bald einen positiven Bescheid seines Asylantrags. Einen herzlichen Dank auch allen lieben Menschen in Deutschland, die an mich gedacht und mich unterstützt haben.