Geschichten aus Kenia

Teil 2 des Berichts von Einsatzarzt Dr. Christian Fricke aus Nairobi

Natürlich soll man aufhören, wenn es am schönsten ist, und so bereite ich mich innerlich auf den baldigen Abschied aus dem Nairobi-Projekt der German Doctors vor. Die letzten Wochen waren durch mehr Routine und Ausgeglichenheit geprägt. Auf der Suche nach neuen Geschichten habe ich weiter nach lustigen und weniger lustigen medizinischem Aberglauben gefragt, habe einen Workshop für Storytelling besucht, mir die Vorurteile über die verschiedenen Stämme zu Gemüte geführt und bin am Wochenende gereist. Der Reihe nach:

In Gesprächen kann der Aberglaube manchmal widerlegt werden

Ich kann leider nicht jeden Aberglauben statistisch widerlegen, aber manch einer scheint mir doch zu weit hergeholt, und manchmal muss ich auch ein böses Gesicht machen. Zum Beispiel fragen mich immer wieder Mütter von teils unter- und immer einseitig eiweißarm ernährten Kindern ob sie denn auch Ei geben dürfen (hervorragende Eiweißquelle, weil gut haltbar und verfügbar). Ein weit verbreiteter Glaube ist nämlich, dass die Kinder dann nicht sprechen lernen.  Harmloser dagegen ist, den Kindern Streichhölzer in die Haare zu stecken, um sie vor Verwünschung zu schützen. Kritischer sehe ich, dass vor allem bei den Kikuyu den Kindern die Uvula (das Zäpfchen zwischen den Gaumenmandeln) abgeschnitten wird, weil das angeblich chronischen Husten macht, wenn es zu lang ist. Am Anfang dachte ich, es sei ein Scherz, als ich gebeten wurde zu beurteilen ob die Uvula zu lang sei, aber inzwischen fällt mir immer häufiger auf, dass sie bei vielen aus Zentralkenia fehlt, auch bei Kindern aus Bildungshaushalten. Meine Übersetzerin Jane, selbst vom Stamm der Luo, erzählte wie unsicher sie war, als sie ihr hustendes Kind zu einem alten schwachsichtigen Medizinmann mit einer Rasierklinge gebracht hat. Sie hat sich aber dann doch ein Herz gefasst und es machen lassen. Ob das Husten vielleicht an dem vielen Rauch in den Hütten liegen könnte? Das Thema hatten wir schon mal.

Keine verrauchten Hütten mehr

Einfach aber hilfreich – der selbstgebaute Kamin

Das Kaminprojekt hat jetzt zumindest schon einen Prototyp. Schön ist er nicht, siehe Foto, aber er sorgt für Durchzug, sorgt für Licht, upcycled Müll, kostet fast nichts an Material, gibt einigen jungen Leuten hier im Slum eine Arbeitsstelle, die Idee wäre dass sie die Kamine für 2-3 Dollar bauen, und wir die Werbung für sie machen. Das Thema ist ja nicht neu, dieses Wochenende haben beim ‚Aurora youth award‘ in Armenien Schüler vom United World College mit der Idee „smokeless kitchen“ einen Preis gewonnen. Sie bauen wohl Öfen zum Kochen. Habe mich schon mit Ihnen in Verbindung gesetzt, vielleicht ist ihre Idee ja besser…

Die Kikuyu (die mit der Uvula) sind wohl die Schlitzohren was business angeht. Nicht umsonst stellen sie, zugegebenermassen mit 22% grösster Stamm, meist die Präsidenten. Sie machen sich häufig über die Camba lustig, die zu ehrlich sind um „Deals“ (=Korruption) zu machen. Lustig hören sie sich aber selber an, weil sie konsequent R und L vertauschen. Harmlos, wenn Safali John von Zeblas erzählt, zum Schiessen aber wie der Nachrichtensprecher „post election violence“ ausspricht.

Die Nyatiti, ein traditionelles kenianisches Instrument

Die Luo ein weiterer großer tribe, heißen alle Otiango oder Odengo mit Nachnamen. Wenn sie in den Ferien nach Hause fahren, in Richtung Victoriasee, kommen sie mit Malaria zurück, deswegen muss man sie tatsächlich alle testen. Wenn sie keine Malaria haben aber trotzdem blutarm sind, haben sie ziemlich sicher Sichelzellenanämie. Oder doch Eisenmangel, weil unterernährt. Die Luo sind nämlich arm, aber künstlerisch begabt. Einen berühmten Luo habe ich neulich getroffen, auf dem storytelling workshop, er heißt Makadem und spielt unglaublich schöne Musik auf seiner Nyatiti.

Die Luhya sind gute Untergebene, sehr gehorsam. Kann man als machthungriger Kikuyu oder Nandi also gut brauchen. Es gibt bestimmt auch noch viel mehr Klischees über die insgesamt 42 Stämme, aber Verallgemeinerungen sollen ja angeblich nicht so gut sein, deswegen höre ich mal lieber nach den vier größten Stämmen auf. Vorurteile über Minderheiten sind zwar auch hier die Basis vieler Witze, aber man muss ja nicht alles wiedergeben.

Auf dem Workshop, gehalten von einem Waliser Wahlberliner namens Chris Rogers (in Berlin wird auch dank ihm das Geschichten erzählen an den Schulen wieder ernst genommen), habe ich zwar nicht viel über das Geschichten erzählen gelernt, aber sehr viel über kenianische Geschichten. Schon lange hatte ich mich über die „Pause“ gewundert, die die Leute hier vor allem bei Reden in der Öffentlichkeit verwenden. Sie heben die Stimme und halten mitten im Satz inne um … Pause… das Wichtigste! heraus zu heben. Was aus dem traditionellen Geschichten erzählen kommt, und die Zuhörer mit einbindet. Wenn sie nämlich gut aufgepasst haben dann können sie den Satz … Pause … Vervollständigen. Manchmal wird vor der Pause sogar noch ein kurzes „the what?“ eingeschoben. Die Pause‘ ist also ein ..ein was?… ein archaisches Stilelement.  Auch inhaltlich haben die jungen Kenianer, meist Schauspieler, viel preisgegeben. Von der Schwierigkeit eines Jungen, seinem Kikuyu Vater zu sagen, dass er ihn trotz aller Prügel liebt, von Genitalverstümmelung und der Wut auf die Mutter, dass sie nichts dagegen unternommen hat, von Träumen, von Leoparden und Militäreinsätzen.

Gelernt habe ich von Chris dann doch: die Sufis, zunächst einzelne Mystiker des 8. bis 12. Jahrhunderts, unter ihnen der berühmte Rumi aus Konya, waren der Ansicht, dass eine Geschichte niemals eine Erleuchtung sein soll, sondern immer ein Spiegel. Dass eine Geschichte also keine Lehren erteilen soll, sondern zum Nachdenken anregen soll. Auch darüber kann man nachdenken (wie viele Menschen freuen sich über ein Buch mit einem offenen Ende?). Oder nicht.

Die heiligen Motorradfahrer

Bei gemeinsamen Gesprächen konnte man die Situation der Patienten besser nachvollziehen

Worüber ich bei allen meinen Begegnungen mit den hier lebenden Ausländern nachdenke, ist was es braucht, um hier fern der Heimat glücklich zu werden. Muss man dafür zu Hause unglücklich gewesen sein? Muss man den Luxus lieben, den sich viele hier leisten können, die großen Häuser, die vielen Angestellten? Wahrscheinlich muss man einfach einen spannenden Job haben, den man woanders nicht kriegen könnte. Aber für mich ist der Verkehr immer noch furchtbar. Dafür nutze ich zwar anstatt Uber Car jetzt Uber BodaBoda, das Motorradtaxi, was schneller ist und ein bisschen wie Achterbahnfahren. Aber es ist vor allem deswegen schneller, weil die Fahrer absolut verrückt sind und sich darauf verlassen, dass sie immer vorgelassen werden. Einen BodaBoda Mann umfahren ist nämlich ungefähr so wie in Indien eine Kuh umfahren – im Nu sind ganz viele Leute um das Auto, der Autofahrer ist nämlich immer schuld. Darüber hinaus sind die Verkehrsregeln aber undurchsichtig, teure Autos werden eher vorgelassen und auch die Matatus, die Sammeltaxis bzw. Kleinbusse, drängen sich sehr erfolgreich rein.

Auch die Frage der Sicherheit würde mich stören. Neulich durften wir nicht nach Hause gehen, mussten fahren, weil die Bewohner des Slums gegen den Energieversorger KenyaPower demonstriert haben. Dieses Mal kam es zwar nicht zu Gewalt, aber eine Woche vorher war einer unserer Guards von der wütenden Meute niedergeschlagen und ausgeraubt worden. Die Slumvorsteher haben zwar dafür gesorgt, dass alles wieder zurückgegeben wurde, und der Strom ist inzwischen auch wieder da, aber im Alltag ist man doch oft eingeschränkt in dem was man machen darf und was nicht, wohnt hinter hohen Mauern und Stacheldraht, geht nachts nicht auf die Straße, hat immer ein bisschen Geld dabei falls man ausgeraubt wird.

Beim Abendspaziergang lässt man den Tag Revue passieren

Zum Ausgleich muss man ab und zu mal raus, im Zweifelsfall Tiere gucken. Da lernt man auch was. Viele (u.a. Flusspferde, Büffel, Elefanten) Herden verstoßen die Männchen, die als Junggesellengruppen umherziehen, und werden von nur einem Alpha begleitet. Glaube das würde bei uns Menschen nicht gut gehen. Die Giraffen haben eine Art Kindergarten, in dem die Jungtiere auf die Babies aufpassen während die Mutter auf Futtersuche geht. Wenn sie sich streiten, hauen sie sich mit den Köpfen. Und weil ihr Kopf so weit oben ist, haben sie Bluthochdruck und leben nicht sehr lange. Im Zelt sollte man kein Essen lassen, weil die Columbus Affen oder auch die violet monkeys das Zelt aufmachen können und eine ziemliche Sauerei mit dem Essen veranstalten. Mein Lieblingstier ist aber die Schildkröte im Garten einer Freundin, die wohl schon 90 Jahre alt ist und deren Panzer mit Silikonkleber repariert wurde, nachdem sie sich einmal unter dem Hinterreifen versteckt hatte. Ein bisschen wie bei Janosch, wo der kranke Tiger im Krankenhaus für Tiere geröntgt wird, Diagnose: Streifen verrutscht. Am letzten Wochenende bin ich auf eine schöne Insel gefahren, Lamu, wo es trotz 25000 Leute keine Autos gibt. Und anstatt Parkverbot steht an der Hauswand: bitte hier keine Esel anbinden. Ich bin dann einfach weitergegangen.