Eine Stadt voller Gegensätze

Ein Bericht von Einsatzarzt Dr. Ruedi Völkle aus Kalkutta

Warteschlange an der Foreshore-Road

Schon zu Beginn meines Einsatzes in Kalkutta wurde ich mit den schwierigen Lebensbedingungen und den daraus resultierenden Problemen für die arme Bevölkerung konfrontiert. Eine Patientin ist die ganze Nacht durch Zug gefahren, kommt jetzt in der späten Vormittagsstunde aus der Warteschlange in die Konsultation. Ob es keine Ärzte, keine Spitäler in ihrer Heimat gäbe, frage ich. Schon, aber die hätten keine Medikamente oder nicht die Richtigen zur Verfügung, sagt sie. Ob sie in Kalkutta noch Verwandtschaft hätte, irgendwo zu Besuch gehen könne. Nein, sie fahre direkt wieder mit dem Zug zurück.

Eine spartanische Waschstelle

Oft wundere ich mich, welch lange Wege die Patienten auf sich nehmen, um die Slumambulanzen der German Doctors aufzusuchen. Die Gründe dafür dürften so verschieden sein wie die Krankheitsbilder, die wir zu sehen bekommen. Manchmal ist es einfach der billigste Weg, um zu einer ersten medizinischen Beratung und Behandlung zu kommen. Manchmal ist eine zusätzliche Meinung gefragt nach schon ausgedehnter Abklärung an staatlichen oder privaten Spitälern. Dann besteht auch wieder die Hoffnung, dass die deutschen Ärzte etwas könnten, was andere nicht können. Oder der Patient erhofft sich die Bezahlung einer teuren Zusatzuntersuchung, die von einem gut ausgebildeten indischen Arzt empfohlen wurde, aber für den Patienten nicht bezahlbar ist. Viele Patienten fühlen sich von unseren Teams auch einfach gut behandelt und wahrgenommen oder haben von Bekannten Gutes von German Doctors gehört.

Hohe Erwartungen an die German Doctors

Die hohen Erwartungen können auch wir nicht immer erfüllen. Die Bezahlung teurer Untersuchungen und Behandlungen übernehmen wir im Regelfall nicht. Auch Wunderheilungen gelingen uns nicht. Wenn sich dann unsere bescheidenen Behandlungsmöglichkeiten erschöpfen, besteht unsere  Aufgabe nach Erstdiagnose und Triage vorwiegend darin, die Patienten mit Hilfe unserer Übersetzerinnen und Sozialarbeiter an die vorhandenen Institutionen heranzuführen, wo sie die adäquaten Untersuchungen und Behandlungen bekommen können.

Erklärung der Insulinspritze

In Kalkutta lebt es sich ja nicht wie im Dschungel. Es gibt alles an Untersuchungs- und Behandlungsmöglichkeiten, seien es Universitätskliniken, qualifizierte und spezialisierte Ärzte, Labore, Röntgeninstitute mit MRI und CT, Möglichkeiten der Dialyse, Herzoperationen und plastische Chirurgie. Aber für die wirklich arme Bevölkerung in den Slums sind diese Angebote trotz ihrer scheinbaren Nähe und Verfügbarkeit ausser Reichweite, und die unübersichtlichen  Institutionen wirken auf sie eher als ein sie verzehrender Moloch, dem sie sich gar nicht erst aussetzen möchten. Hier helfen unsere Patientenbegleiter den Patienten, die häufig ja auch nicht lesen können, die richtigen Anlaufstellen in den grossen Spitälern zu finden.

Oft wundere ich mich auch über die extrem lange Zeit, die zwischen den ersten Symptomen wie dem Aufbrechen eines Geschwürs oder einem Unfall und dem ersten Arztbesuch vergeht, nicht nur Monate, sondern Jahre. Ein Grund dafür kann die finanzielle Situation des Patienten sein, der sich einen Arztbesuch einfach nicht leisten kann, oder der prioritär anderweitige Verpflichtungen der Familie gegenüber wahrnehmen muss. Ebenfalls ein Grund ist auch Quacksalberei, die uns der Patient nicht kundtut. Oder fehlendes Wissen um die Hilfsmöglichkeiten und ein anderes Verständnis von Gesundheit.

Erschreckende Vernachlässigung

Zufriedene Patienten in Chengail

Es sind diese Fälle krasser Vernachlässigung aus verschiedensten Gründen, die uns Ärzte schockieren und in Erinnerung bleiben: Die  abfaulenden Füsse, sei es nach Verletzung oder bei Diabetes, die über Monate nicht mal verbunden werden und dem Grossstadtschmutz ausgesetzt bleiben. Eine Frau mit Lähmung der unteren Körperhälfte seit 6 Monaten, bei der die Tuberkulose zwei Lendenwirbelkörper zerstört und eine Querschnittlähmung bewirkt hat. Ein Zustand nach Ausrenkung der Schulter vor Jahrzehnten mit leerer Gelenkpfanne und dem fehlplazierten Gelenkkopf. Der Mann mit Tumor im Mundwinkel, der schon die halbe Unterlippe zersetzt hat. Das 2-jährige Kind mit Rachitis mit aufgetriebenen Handgelenken und extremen O-Beinen, welches noch nicht gehen könne. Der Patient, der seit 4 Monaten für die Herzoperation vorgesehen ist und wöchentlich im Spital nachfragen muss, ob nun ein Bett für ihn frei werde. Kinder übersät von Abszessen, Krätze und Pilzen, die in den Müllhalden nicht die geringste Hygiene pflegen können. Und all die seit Monaten hustenden und ausgezehrten Leiber der Tuberkulose-Patienten. Manchmal brauchen unsere Ratschläge auch etwas Zeit bis zur Umsetzung: wie bei dem Mädchen mit hohem Fieber und wässrigen Durchfällen seit 1 Woche, in stark reduziertem Allgemeinzustand.

Erfolgreich die Impfung überstanden

Wir machen der Mutter den Vorschlag, das Kind auf unsere Kinderstation aufzunehmen. Die Mutter lehnt ab, scheinbar, weil nächste Woche ein Hindu-Festival anstehe. Am nächsten Tag stehen Mutter und Kind wieder in der Ambulanz, diesmal wegen der weiteren Verschlechterung  bereit zur Aufnahme auf der Kinderstation, wohin es sofort von unserem Fahrer gebracht wird. Schon abends bei unserer Rückkehr ist das Mädchen nicht mehr zu erkennen, strahlt glücklich mit der Mutter um die Wette. Die intravenösen Antibiotika und der Flüssigkeitsersatz haben es wieder hergestellt.

Kalkutta und seine sehr unterschiedlichen Bewohner bleiben mir auch nach meinem 2. Einsatz ein unerschlossenes Rätsel. Es ist eine brodelnde Stadt voll der Gegensätze, in der ich mich als German Doctor im Spannungsfeld von Arm und Reich, Slums und Luxusappartements, minimalistischer Barfussmedizin und den Möglichkeiten von Universitätsspitälern bewege. Es ist aber auch eine Stadt, in der Fortschritte zu bemerken sind und realistische Hoffnung auf eine allmähliche Besserung der Lebensumstände für einen zunehmenden Teil der Bevölkerung besteht.