Ab und zu steht eine Kuh in der Landschaft
Ein Bericht von Einsatzarzt Dr. Florian Prechter über die Indienhilfe der German Doctors
Vor kurzem bin ich von meinem ersten Arzteinsatz in Kalkutta zurückgekehrt. In den sechs Wochen, in denen ich für die Indienhilfe der German Doctors gearbeitet habe, konnte ich viele neue Eindrücke gewinnen und wertvolle Erfahrungen sammeln. Der erste Blick aus dem Flughafen bestätigte zunächst alle Vorurteile. Die Luft ist heiß und stickig, die Straßen voll mit hunderten laut hupender Motorräder. Überall liegt Plastik, und ab und zu steht eine Kuh in der Landschaft. Gott sei Dank steht aber auch der Fahrer der German Doctors am Gate, der mich im Krankenwagen mit deutschem Bundesadler vorbei am Müllberg von Kalkutta und über die Brücke über den Hoogli zu meinem Zuhause für die nächsten Wochen bringt. Die anderen sind noch beim Frühstücken und haben gleich einen Kaffee für mich!
Kalkutta ist als Projekt wahrscheinlich mit am „einsteigerfreundlichsten“. Man lebt in einer Art WG mit Vollpension, ein Stockwerk über der Kinderstation. Das Team besteht aus sechs meistens sehr erfahrenen Ärzten, die alle schon unterschiedlich lang im Einsatz sind. Man hat so immer Unterstützung, meistens auch Expertise aus verschiedenen Fachrichtungen und nette Menschen, die ihre Erfahrungen aus Kalkutta teilen können (Wohin fährt welcher Bus? Wo gibt’s Postkarten?). Außerdem ist mit Tobias ein Langzeitarzt immer verfügbar und ansprechbar, der einen bei fast jedem Problem unterstützen kann.
Jeden Wochentag um acht treffen sich die Ärzte (jeweils 2-3 pro Ambulanz) und das restliche Team (Dolmetscher, Verbandsschwestern, Apothekenschwestern, Impfpersonal) nach durchschwitzter Nacht (zumindest im Sommer) auf dem Hof vor der Unterkunft und fahren zur Arbeit in einem der Slumgebiete Kalkuttas. Das kann ein Verschlag an einem stinkenden Fluss, eine Holzhütte an der Straße oder ein richtiges Haus sein. Die Indienhilfe der German Doctors hat dabei viele Facetten: Wir tun in unserer provisorischen Ambulanz dann die nächsten Stunden dass, was in Deutschland wohl der Hausarzt tun würde. Wir behandeln und entwurmen kleine Kinder mit Schnupfen und Husten, beruhigen die Eltern, zeigen Übungen gegen Rückenschmerzen und Nackenweh, zerbrechen uns den Kopf über seltsame Hautveränderungen und kontrollieren die Zucker- und Blutdruckeinstellung. Ab und zu kommt aber dann das Kind mit Herzfehler, Rachitis oder Malaria oder der Erwachsene mit Magenblutung, Hepatitis oder Tuberkulose. All das kann in Kalkutta hervorragend diagnostiziert und behandelt werden. Krankenhausversorgung und Diagnostik haben mindestens westliches Niveau, Werbeschilder für das MRT oder den Herzkatheter nebenan hängen an jeder Straße. So fühle ich mich in Kalkutta eher als Koordinator und Unterstützer für die, die sich den Arzt um die Ecke, die billigen Medikamente in der Apotheke und den Klinikaufenthalt im Notfall nicht leisten können. Oft kann man den Patienten auf eine vernünftige Bahn bringen, den Zucker ordentlich einstellen, das akute Problem zufriedenstellend lösen oder auch die Tuberkulose-Therapie veranlassen, die in der Mehrzahl der Fälle zur Heilung führt. Manchmal stößt man allerdings auch schmerzhaft an die Grenzen, wenn man einem Patienten die mögliche Chemotherapie oder die Herzoperation dann eben nicht ermöglichen kann.
Am schönsten für mich im Einsatz waren eindeutig die Kinder. Ein Trost für alle, die (wie ich) in Deutschland nicht viel mit Pädiatrie zu tun haben und sich deshalb ein wenig vor dem kranken Kind fürchten: Ich habe relativ wenige wirklich schwerkranke Kinder gesehen, und die erkennt man klinisch meistens sofort. Eine Aufnahme auf die Kinderstation war in Kalkutta auch in unklaren Fällen immer problemlos möglich. Und ich habe in den Sprechstunden viele wahnsinnig nette Kinder untersuchen dürfen, die von dem komischen deutschen Arzt ganz begeistert waren. Das Impfen mit großem Geschrei kommt ja immer erst hinterher…
Nach Feierabend gibt es in Kalkutta immer etwas zum Sehen und zu tun. Leider ist die Ärztewohnung sehr außerhalb und ins Zentrum der Stadt braucht man locker eine Stunde. Aber dafür ist der Weg immer ein Erlebnis! Und auch am Wochenende gibt es so viele Möglichkeiten, dass niemandem langweilig wird, der es nicht darauf anlegt.
Laut, voll und anstrengend – das ist das Pauschalurteil, das man in fast jedem Buch über Kalkutta finden wird. Man liest über Armut, Dreck und soziale Ungerechtigkeit. All das wird man auf seinem Einsatz ganz sicher zu sehen bekommen. Vor allem aber ist Indien ein Land voller Farben und Gegensätze. Wer genug Energie mitbringt, der wird hier jeden Tag spannende Entdeckungen und tolle Erfahrungen machen können.
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