Liebe Lynn, lieber Norbert, ihr habt als erste German Doctors in unserem neuen Arztprojekt in Sierra Leone gearbeitet. Was hat euch ausgerechnet dorthin verschlagen?
Lynn: Als ich von dem Projekt gelesen habe, hat mich vor allem der Ansatz gereizt, dass man nicht einfach in das Land kommt, Medizin macht und wieder geht, sondern dass es ein integrierter Ansatz gemeinsam mit den lokalen Gesundheitsbehörden ist, zusammen mit der Organisation MoPADA und den Gesundheitsmitarbeitern und -mitarbeiterinnen von der Regierung. Diesen integrativen Ansatz finde ich deshalb wertvoll, weil ich da den Eindruck habe, dass wir auch langfristig in dem Land Hilfe leisten können, indem die Leute von uns lernen können, aber auch – und das finde ich besonders für mich wertvoll - dass wir von den Leuten hier lernen können. Die Kolleginnen und Kollegen haben hier eine wahnsinnig breite Erfahrung mit Krankheiten, die wir in Deutschland nicht sehen oder nicht mehr sehen.
Norbert: Mich hat das Konzept sehr angesprochen, weil es ein Projekt ist, das sehr stark auf die Kooperation mit staatlichen Stellen setzt. Wir arbeiten in verschiedenen, z.T. sehr abgelegenen Dörfern in schon bestehenden Gesundheitszentren, in welchen es bisher keine ärztliche Versorgung gab. Diese Lücke schließen wir mit unserer Arbeit und ergänzen dadurch gemeinsam mit den staatlichen Gesundheitsfachkräften die medizinische Versorgung der Bevölkerung.
Wie sieht eure Arbeit vor Ort aus?
Lynn: Wir behandeln 50 bis 60 Patientinnen und Patienten am Tag. Die Krankheitsbilder sind sehr weit gefächert. Aktuell sehen wir hier sehr viel Malaria. Das ist einfach ein Hochendemiegebiet, in dem wir arbeiten und gerade mit der Regenzeit nehmen diese Fälle nochmal deutlich zu. Und wir wissen, dass Malaria eine der häufigsten Todesursachen, vor allem im Kindesalter, ist. Daher ist es gut, dass wir als German Doctors nun frühzeitig intervenieren, indem wir jetzt testen und behandeln.
Norbert: Im täglichen Miteinander lernen sowohl die staatlichen Gesundheitsfachkräfte von uns, als auch wir von ihnen. Somit bringen wir gemeinsam das Projekt voran und verbessern langfristig die medizinische Basisversorgung in dieser Region.
Was für Krankheiten begegnen euch noch im Arbeitsalltag in Sierra Leone?
Lynn: Weitere Krankheiten sind muskulärer Natur, weil die Leute hier sehr schwer arbeiten und es gibt auch viele chronische Erkrankungen, wie zu hohen Blutdruck, was wir in Deutschland früh erkennen, hier aber leben die Menschen sehr lange unbehandelt mit hohem Blutdruck. Und das ist auch das Gute an dem Projekt, dass wir jeden Monat wieder in dieselbe Gesundheitsstation kommen, um nicht nur akute, sondern auch chronische Krankheiten behandeln zu können.
Norbert: Sierra Leone gehört zu den zehn ärmsten Ländern der Welt und wir sehen hier – mehr als in anderen Ländern des Globalen Südens – sehr viele z.T. schwere Infektionserkrankungen, in erster Linie Malaria, aber auch Typhus, Tuberkulose, Onchocercose (Flussblindheit), Elefantiasis (Erkrankung durch Fadenwürmer), auch sexuell übertragbare Krankheiten. Aber auch schwere Wundinfektionen und Abszesse der Haut, bei denen in den schlimmsten Fällen Amputationen zur Disposition stehen.
Gibt es einen Fall, der besonders in Erinnerung geblieben ist?
Norbert: Mehr als in anderen Projekten der German Doctors haben wir unterernährte Kinder gesehen, der schlimmste Fall war ein sieben Monate altes Kind, das nur noch drei Kilo wog. Wir sehen aber auch viele schwangere Frauen, die zuvor Fehlgeburten hatten - mit traumatischen Folgen. Über die Ursachen sind wir uns noch nicht ganz im Klaren.
Während unseres Einsatzes stellte sich in einem Dorf eine 22-jährige Schwangere, die bereits drei Totgeburten erlitten hatte, bei uns in der ärztlichen Sprechstunde vor. Das Kind hatte sich bis zur 35. Schwangerschaftswoche im Mutterleib offensichtlich gesund entwickelt. Gemeinsam mit Lynn und dem medizinischen Team, haben wir die junge Frau rechtzeitig vor der Geburt in ein Krankenhaus überwiesen, in das sie das Team der örtlichen Partnerorganisation MoPADA gebracht hat. Begleitet wurde die Schwangere von ihrem Mann und uns Ärzten. Nach eingehender Untersuchung im Krankenhaus wurde aufgrund der Vorgeschichte ein geplanter Kaiserschnitt vorgenommen. Die Mutter hat so ihr erstes lebendes und gesundes Kind zur Welt bringen können.
Was würdest du dir für die Zukunft des neuen Projektes wünschen?
Lynn: Wir haben hier noch ein sehr großes Entwicklungspotenzial. Derzeit machen wir noch „Training-on-the-job“, während der Vorstellung der Patientinnen und Patienten. Hier sehe ich eine Möglichkeit, gemeinsam mit den Gesundheitsmitarbeitenden vor Ort, Schulungseinheiten zu entwickeln, in denen man Patientenvorstellungen macht und einen Fall gemeinsam noch einmal durchgeht. Beide Seiten geben ihren Input, sodass man eine kleine Unterrichtseinheit am Ende des Tages umsetzt, aus der dann beide Seiten etwas mitnehmen und lernen können.
Norbert: Das Projekt sehe ich sehr positiv, weil es hier einen sehr großen Bedarf gibt, den wir täglich sehen. Die Zusammenarbeit mit der Partnerorganisation und den staatlichen Stellen läuft, abgesehen von einigen Anlaufschwierigkeiten in den staatlichen Gesundheitszentren, sehr gut. Wir sollten im Laufe der Zeit vielleicht noch mehr Weiterbildung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des staatlichen Gesundheitsdienstes umsetzen, damit die Hilfe langfristig im Land bleibt.
Vor allem wäre aber ein Budget notwendig, um die Patientinnen und Patienten, die dringend stationär behandelt werden müssen, aber selbst über keine finanziellen Ressourcen verfügen, in ein Hospital bringen zu können.