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Diagnose Wassermangel

„Durstig bin ich eigentlich immer“, klagt die 32-jährige Bhavani Mukherjee*. „Trotzdem trinke ich so wenig wie möglich. Ein Großteil des Wassers, das meine älteste Tochter jeden Morgen vom Brunnen holt, überlassen wir meinem Mann. Er arbeitet hart in einer Ziegelei und braucht es dringender als die Kinder und ich.“

© Christian Nusch

Ähnlich verstörende Aussagen hören die ehrenamtlich arbeitenden German Doctors häufig in den Dörfern des indischen Sundarbans-Delta. Viele Krankheiten, die sie in den Rolling Clinic-Sprechstunden diagnostizieren, haben ihren Ursprung in chronischer Dehydrierung und in verunreinigtem Wasser. So wie Bhavani Mukherjees Nierenerkrankung. „Wir sehen hier auch immer wieder Menschen mit Schwächezuständen und anhaltender Verstopfung. Typische Folgen einer chronisch zu geringen Flüssigkeitsaufnahme“, erklärt Dr. Jasmin Fritzen, German Doctors-Einsatzärztin. Auch schwere Entzündungen des Magen-Darmtrakts, ausgelöst durch verunreinigtes Wasser, Hauterkrankungen und Anämie sind in den verstreuten Siedlungen weit verbreitet, bei Kindern Würmer.

Baden, waschen, trinken – oft gibt es nur einen Tümpel

Frauen wie Bhavani Mukherjee und ihre Töchter trifft der Mangel an sauberem Wasser meist noch härter als die Männer. Zum einen sparen sie das wenige Wasser oft für die körperlich schwer arbeitenden Männer auf. Zum anderen waschen sie ihre Kleider, ihr Geschirr und sich selbst in schmutzigen Tümpeln, die insbesondere in den zunehmend heißen Sommermonaten kaum mehr als schlammige Pfützen sind. Beim Bad in der Öffentlichkeit dürfen sie sich nicht entblößen, und so tragen sie ihre Kleider in der schwülen Hitze oft noch Stunden nass auf der Haut. Der ideale Nährboden für juckende Ekzeme, Pilzinfektionen und andere Hautkrankheiten. Mancher Familie bleibt sogar zum Trinken oft nur das verunreinigte Tümpelwasser.: „Was sollen wir machen? Wir sind arm, können uns abgefülltes Wasser nicht leisten und der Weg zum Brunnen ist weit“, klagt die vierfache Mutter, Bhavani Mukherjee.

Der Weg zum Brunnen ist gefährlich

Der Weg zum Brunnen ist auch gefährlich! Traditionell ist das Wasserholen Aufgabe der Kinder, insbesondere der Mädchen. Ab einem Alter von etwa sieben Jahren müssen sie die schweren Wasserbehälter über Strecken von mehreren Kilometern von einem Tiefbohrbrunnen zu ihrer Behausung tragen. „Dabei kommt es immer wieder zu Unfällen durch das rücksichtslose Fahrverhalten der meisten Verkehrsteilnehmer. Nur wenige von ihnen haben einen Führerschein und auch viele derjenigen, die einen haben, fahren extrem gefährdend“, berichtet Fritzen. „Manch einer bräuchte ganz sicher eine Brille und es gibt keinen Gehweg.“

Gelegentlich kommt es sogar zu sexuellen Übergriffen auf Mädchen und Jungen. Auch Bhavanis jüngste Tochter, 8 Jahre alt, kam eines Tages verstört vom Wasserholen. Seitdem übernimmt ein älterer Bruder den täglichen Gang zum Brunnen. Zeit, die er eigentlich in der Schule verbringen sollte – wie viele andere wasserholende Kinder auch.  

Wasser im Überfluss und zugleich Mangelware

„Es scheint paradox: In einer Region, die von der Allgegenwart des Wassers geprägt ist, ist es zugleich Mangelware. Aber Wasser ist nicht gleich Wasser“, erläutert Laurence Perris, Projektkoordinator der indischen Hilfsorganisation ASHA, einem wichtigen Partner der German Doctors. Das rund 10.000 km² umfassende Mündungsdelta der großen indischen und bangladeschischen Flüsse, Lebensraum von rund 4,6 Millionen Menschen, ist geprägt von den Gezeiten, dem Monsun und den Hochwassern von Ganges, Brahmaputra und Meghna. Der Großteil dieses UNESCO-Weltnaturerbes zählt zu den ökologisch sensibelsten Regionen der Welt – und es ist massiv bedroht. Durch die Abholzung von Mangroven, das Abzweigen von Süßwasser der großen Ströme für die Bewässerung landwirtschaftlicher Flächen sowie den Eintrag von Antibiotika in die weit verbreiteten Fisch- und Garnelenaufzucht-Becken. Am folgenreichsten für die Sundarbans dürfte aber die Klimaerwärmung sein. Sie zieht eine ganze Kaskade negativer Auswirkungen nach sich: immer längere und heißere Sommer, eine steigende Zahl tropischer Wirbelstürme mit großer Zerstörungskraft, den Anstieg des Meeresspiegels und damit einhergehend die zunehmende Versalzung großer Flächen sowie offener Teiche und Grundwasserschichten. So werden ehemals landwirtschaftlich genutzte Felder und Süßwasserreservoire für die Menschen unbrauchbar.

Lobbyarbeit bewirkt erste Erfolge

Die Lage verschärft sich zusehends, beklagt Laurence Perris: „Viele Brunnen, aus denen vor kurzem noch Süßwasser plätscherte, sind heute ausgetrocknet. Wo früher Süßwasser war, ist heute Brack- oder Salzwasser. Das können die Menschen natürlich nicht trinken und sie können damit auch ihre Gärten und Felder nicht bewässern. Sie sind angewiesen auf tiefere Grundwasserschichten.“ Doch Tiefbohrbrunnen gibt es nicht in ausreichender Zahl, geschweige denn Wasserleitungen. Perris erklärt: „Ein wichtiges Ziel von ASHA ist die Bildung einer starken Lobby. Wir mobilisieren die Dorfgemeinschaften, ihre Recht auf sauberes Trinkwasser bei der Regierung einzufordern!“ Mit beachtlichen Erfolgen: Die Medien in der Region berichteten unlängst umfangreich über die Thematik, die Ministerin von Westbengalen hat zugesagt, den Zugang zu sauberem Wasser sicherzustellen und in 80 Dörfern wurde bereits mit den Baumaßnahmen begonnen. 29 Dörfer erhielten Wassserpumpen für tiefes Grundwasser und Wasserleitungen wurden in 57 Dörfern verlegt. 2160 Haushalte in elf Dörfern erhalten bereits zwei Mal täglich sauberes Wasser aus dem Hahn (Stand Februar 2024). Das sind wichtige Erfolge. Doch sie allein reichen noch nicht aus. Denn im vermeintlich sicheren Brunnenwasser lauert oft eine ganz andere, auf lange Sicht schlimmstenfalls tödliche Gefahr: Arsen.

Krankmachende Gefahr im Brunnenwasser

Das giftige Halbmetall ist geschmacks- sowie geruchslos. Es kommt natürlicherweise im anstehenden Gestein vor, wird nach dem Abpumpen vom nachsickernden Grundwasser aus Gesteinen und Sedimenten herausgelöst und gelangt so ins Brunnenwasser. Test-Labore gibt es viel zu wenig. Zudem übersteigt die Gebühr für einen Arsen-Test den durchschnittlichen Tagesverdienst eines Saisonarbeiters um ein Vielfaches. Die tragische Konsequenz: Die Menschen trinken weiterhin das arsenkontaminierte Wasser, was sowohl akute als auch langfristige gesundheitliche Folgen haben kann. Einsatzärztin Fritzen erklärt: „Übelkeit, Erbrechen, Durchfall und Herzrhythmusstörungen können Symptomen einer akuten Arsenvergiftung sein. Chronische Arsenvergiftungen äußern sich zum Beispiel durch Hautveränderungen, Entzündungen der Mundschleimhaut und des Magen-Darmtrakts, einer Schädigung des Knochenmarks sowie durch entzündliche Erkrankung des Nervensystems, Kopfschmerzen, Benommenheit, Depressionen und Schlafstörungen. Auch für manche Krebserkrankung ist Arsen die Ursache.“

Ursachen bekämpfen statt nur Symptome lindern

„Das gemeinsame Projekt mit ASHA und dem BMZ ist eine wichtige Ergänzung unserer ärztlichen Arbeit“, erläutert Dr. Christine Winkelmann, Vorständin des German Doctors e.V. „Auf lange Sicht ist den Menschen in den Sundarbans nur geholfen, wenn wir nicht nur Symptome lindern, sondern auch die krankmachenden Ursachen beseitigen. Wir sind sehr zuversichtlich, gemeinsam mit unseren starken Partnern das Recht der marginalisierten Dorfgemeinschaften auf sicheres Trinkwasser bei den verantwortlichen Stellen durchsetzen zu können.“ Bis es soweit ist, sind die Sprechstunden der German Doctors eine wichtige Anlaufstelle für Bhavani Mukherjee und alle anderen Menschen im Bezirk Basirhat im Sundarbans-Delta, die an durch verunreinigtes Wasser verursachten Krankheiten leiden.