„Besonders bei Kindern und jungen Menschen hinterlässt der Krieg tiefe Spuren“
Liebe Anna, lieber Max. Ihr wart vor wenigen Wochen in der Ukraine, habt mit unseren Partnerorganisationen gesprochen und einen Eindruck über die Lage vor Ort gewonnen. Was für eine Situation habt ihr dort vorgefunden – zwei Jahre nach Beginn des russischen Angriffskrieges?
Was uns immer wieder aufgefallen ist, ist die sehr motivierte und engagierte Zivilgesellschaft im Land. Die Menschen vor Ort haben große Pläne und Ziele für ihre Gemeinden, Städte und für die Ukraine als Ganzes. Auch zwei Jahre nach der russischen Großinvasion hat sich daran nichts geändert. Gleichwohl bestimmt der Krieg fast jeden Aspekt des täglichen Lebens: In Plakaten, Social Media, Radios und im Fernsehen ist der Krieg immer im Blick. Fast jede Familie hat entweder einen Angehörigen, der an der Front kämpft oder kennt jemanden, der an der Front getötet wurde. Die verstärkten russischen Luftangriffe der letzten Monate, auch auf das Landesinnere, zehren stark an den Kräften der Menschen im ganzen Land und insbesondere in den frontnahen Gebieten.
Anna, für dich war das bereits die zweite Reise in die Ukraine seit Ausbruch des Krieges. Was hat sich seit dem letzten Mal aus deiner Sicht verändert?
Meine erste Reise im April ´23 war auch meine erste Reise überhaupt in die Ukraine. Vieles war neu und ungewohnt. Bei der zweiten Reise war ich dann auch schon vertrauter mit dem Land und unseren Partnerorganisationen. Was mir vor allem aufgefallen ist, ist wie engagiert die Menschen vor Ort sind. Alle versuchen etwas Positives zur Gesamtsituation beizutragen.Gleichzeitig spürt man, dass die Menschen müder werden. Die zwei Jahre seit dem russischen Angriffskrieg haben insbesondere bei den Kindern und jungen Menschen in der Ukraine tiefe Spuren hinterlassen.
Seit März 2022 ist German Doctors e.V. in der Ukraine aktiv und arbeitet vor Ort mit verschiedenen Partnerorganisationen zusammen. Was hat sich seitdem getan?
Nach fast zwei Jahren Arbeit in der Ukraine können wir auf einige Erfolgserlebnisse zurückblicken:
Mittlerweile haben wir über 20 Projekte erfolgreich abgeschlossen und damit dazu beigetragen, die basismedizinische Versorgung an unseren Projektstandorten zu verbessern. Neben der Verteilung von Medikamenten und Essenspaketen an bedürftige Menschen und in der Ukraine vertriebene Menschen haben wir Transporte von medizinischen Gütern an Kinderärztinnen und Kinderärzte sowie Kliniken in der Ukraine organisiert. Gleichzeitig bieten wir medizinische Erstuntersuchungen für IDPs in Odessa an und finanzieren eine Online-Plattform für psychologische Hilfe. Unsere Projekte orientieren sich dabei immer an den Bedarfen der Menschen vor Ort, welche sich natürlicherweise im Kriegsverlauf ständig ändern.
Es ist sehr schön, nach fast zwei Jahren Engagement in der Ukraine Erfolge wie zum Beispiel unser Pflegeheim in Kalusch für die Evakuierung von alten und Menschen mit Behinderung und die wiederaufgebaute Gesundheitsstation in Kolychivka zu sehen.
Doch die Arbeit von German Doctors in der Ukraine ist noch nicht vorbei. Zusammen mit unseren ukrainischen Partnern wollen wir 2024 weiterhin effektive und schnelle humanitäre Hilfe leisten.
Was genau sind das für Partnerorganisationen, mit denen die German Doctors zusammenarbeiten und wie sieht diese Zusammenarbeit aus?
Wir arbeiten mit verschiedenen ukrainischen Partnerorganisationen zusammen. Teils mit einzelnen Krankenhäusern, aber auch mit lokalen und nationalen ukrainischen Hilfsorganisationen. Wichtig ist uns dabei die Lokalisierung unserer Arbeit. D.h. wir planen Projekte gemeinsam mit unseren Partnerorganisationen und begleiten sie auch gemeinsam. Unsere lokalen Partnerorganisationen kennen die Bedarfe, Strukturen und die Probleme der Menschen vor Ort aus erster Hand. Es ist für uns damit unerlässlich, die Expertise unserer Partner zu nutzen und zu stärken.
Wie verändert sich der Bedarf im Laufe des Krieges? Habt ihr den Eindruck, dass es inzwischen andere Herausforderungen in der Nothilfe gibt als zu Beginn?
Kurz nach Ausbruch des Angriffskrieges haben wir uns vor allem auf den Transport von Medikamenten und medizinischen Versorgungsgütern für Kliniken in der Ukraine konzentriert. Mittlerweile ist die Beschaffung von vielen medizinischen Gütern in der Ukraine wieder möglich. Im Verlauf des Krieges haben sich zudem die Bedarfe der Bevölkerung und damit auch der Fokus unserer Projekte geändert. Mittlerweile geht es nicht mehr nur um die Versorgung der Bevölkerung mit lebensnotwendigen Dingen, sondern auch um den Wiederaufbau von zerstörter Infrastruktur. Durch russische Bomben werden immer wieder Krankenhäuser und Gesundheitseinrichtungen beschädigt und zerstört, obwohl das internationale Völkerrecht Schutz für medizinisches Personal und Gesundheitseinrichtungen vorschreibt. Es wurden mehr als 1.500 Einrichtungen beschädigt und fast 200 ganz zerstört. In 2023 haben wir bereits eine zerstörte Gesundheitsstation wiederaufgebaut, in 2024 sollen zwei weitere folgen.
Groß ist auch der Bedarf auch an Unterstützung für mentale Gesundheit: Durch die anhaltenden Angriffe ist der Anteil der Bevölkerung, welcher an psychischen Problemen wie Depressionen, Angstzuständen usw. leidet, stark angestiegen. Die Krankheitsbilder reichen von leichten bis schweren Despressionen, Angststörungen, Posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) und anderen kriegsbedingten Traumata. Die Weltgesundheitsstation schätzt,[1] dass fast 10 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer von einer psychischen Erkrankung betroffen sind. Das ist etwa jede*r Vierte.
Der Bedarf an Psychotherapie ist also riesig. Wir arbeiten dazu mit einer ukrainischen Partnerorganisation zusammen, die ein Online-Angebot für Psychotherapie aufgebaut hat.
Wie kann man sich diese Online-Psychotherapie genau vorstellen? Wird das Angebot gut angenommen?
German Doctors bietet zusammen mit der ukrainischen Partnerorganisation „Sincere Hearts“ über die Online-Plattform „ucare.me“ Online-Therapiesitzungen für Ukrainerinnen und Ukrainer an. Hier können Klient*innen über ihr Smartphone oder ihren Laptop kostenlos bei zertifizierten Psycholog*innen und Psychotherapeut*innen Hilfe in Anspruch nehmen. Das ist ein sehr niedrigschwelliger Ansatz, um psychologische Hilfe bereitzustellen und wird als Angebot gut angenommen. Und das ist wirklich wichtig. Ein Klient beispielsweise hat unter russischer Besatzung gelebt und musste mitansehen, wie seine Angehörigen gefoltert und getötet wurden. Er hat die Online-Therapiesitzungen genutzt und konnte so erfolgreich stabilisiert werden. Und solche Beispiele gibt es viele. Der Bedarf ist enorm hoch.
Aktuell gibt es sogar eine Warteliste, da die Nachfrage das Angebot übersteigt. Personen die sich für die Online-Therapie registrieren, machen am Anfang einen diagnostischen Test, um die Schwere ihrer psychischen Erkrankung und die Dringlichkeit ihrer Behandlung einzuordnen. So können die Personen auf der Warteliste entsprechend priorisiert werden. Im Schnitt nutzt eine Person fünf Therapiesitzungen.
Gibt es weitere Pläne, wie sich das Engagement von German Doctors in der Ukraine weiterentwickeln wird?
Am Anfang der russischen Invasion haben wir unter anderem auch geflüchtete Kinder und Familien in Polen und Ungarn unterstützt. Dort ist der Bedarf jetzt nicht mehr so hoch. Deshalb haben wir diese Aktivitäten mittlerweile eingestellt. Dagegen brauchen vertriebe Menschen innerhalb der Ukraine und solche, die in der Nähe der Front leben, weiterhin viel Unterstützung. Hier müssen lebenswichtige Hilfsgüter bereitgestellt werden und eine medizinische Grundversorgung gewährleistet werden. Viele unserer Projekte konzentrieren sich daher darauf.
So arbeiten wir beispielsweise intensiv am Wiederaufbau von Basis-Gesundheitsinfrastruktur in sicheren Gebieten. Der Wiederaufbau von zwei Gesundheitseinrichtungen startet gerade.
[1] https://www.who.int/news-room/feature-stories/detail/scaling-up-mental-health-and-psychosocial-services-in-war-affected-regions--best-practices-from-ukraine