Fluch oder Segen?
Ein Bericht aus Manila von Einsatzarzt Dr. Özgür Dogan
Ein verstohlener Blick nach unten, ein kurzes Hochziehen der Augenbrauen nach oben. Ein paar Tage hat es gedauert bis ich verinnerlicht habe, dass diese Geste wohl für „ja“ steht – im Gegensatz zum Türkischen, wo es als Ausdruck des gegenteiligen „neins“ dient. Genauso der bestätigende Laut „o-o“, im Gegensatz hierzu die verneinende Bedeutung im Türkischen. Nur ein kleiner Einblick in eine gänzlich neue Welt, an die ich mich zunächst einmal herantasten musste. Die Mangyans als Einheimische Mindoros, welche abgeschieden tief im Dschungel in den Bergen leben, und teilweise noch nie einen Arzt zu Gesicht bekommen haben. Krankheitsbilder, die man sonst nicht in solcher Ausprägung zu Gesicht bekommt. Begrenzte Möglichkeiten, die ein völlig anderes Vorgehen verlangen als man es zu Hause tun würde. Theoretisch hat man die Möglichkeit, Patienten in ein öffentliches Krankenhaus in eine größere Stadt einzuweisen. Praktisch ist das oft nicht mehr als nur ein Akt der Verzweiflung, denn häufig ist es ein unglaublicher Aufwand für den Patienten, das überhaupt in die Tat umzusetzen. Und sei dies geschafft, mangelt es dann entweder an Möglichkeiten der Diagnostik oder scheitert spätestens an einer nicht realisierbaren Therapie. Ein vor Hunger schreiendes 4 Monate altes Kind, das krank und abgemagert aussieht und nicht mehr als ein Neugeborenes auf die Waage bringt, könnte in ein Ernährungsprogramm aufgenommen werden, müsste dafür aber für einige Zeit weg von der Familie. Die Mutter wird sich das überlegen und geht erst einmal wieder heim. Bei uns wäre das ein Fall für das Kinderschutzteam. Ein anderes Kind mit ausgeprägter Dyspnoe und sichtlichem O2-Bedarf bei Pneumonie hätte ich daheim auch nicht aus der Klinik gehen lassen. Hier wollten die Eltern es die nächsten Tage erst einmal mit einer oralen Antibiotikatherapie versuchen. Zwischendurch erscheinen Eltern und geben die Krankenkarten verstorbener Kinder zurück.
Einsatzarzt Dr. Özgür Dogan während der Rolling Clinic
Eine steile Lernkurve habe ich hinter mir, sei es menschlich oder medizinisch. Menschlich, weil man in eine Welt eintauchen kann, die man für kein Geld der Welt so geboten bekommen könnte. Viele Gedankenspiele, viele Vergleiche. Kinder, die mit einem kaputten Flipflop eine Art Brennball/Völkerball spielen, wobei sie sich damit abwerfen, wegrennen, fangen, einen Parcours durchlaufen müssen; Kinder, die vor der Playstation sitzen, weil ihnen oft keine Alternative geboten wird. Alte Menschen, die unglaublich schwere Lasten auf kilometerweite Strecken tragen müssen – weil sie es müssen; Menschen, die durch Arbeiten weniger herausbekommen würden als wenn sie arbeiten würden. Kinder, die mit tiefen dreckigen Fleischwunden an den Füßen mit großer Freude durch den Matsch springen; Eltern, die über eine Krankheit im Internet gelesen haben und das nun abgeklärt haben möchten. Schwerkranke Patienten, die Tagesmärsche hinter sich haben und dann auch noch den ganzen Tag geduldigst warten und tiefe Dankbarkeit im Anschluss zeigen, auch wenn man gar nicht viel machen konnte; Eltern, die es ungeheuerlich finden, dass man mit einem fiebernden Kind nicht augenblicklich drankommt und von Kopf bis Fuß durchgecheckt wird.
2 Wochen lang fährt man mit der Rolling clinic jeden Tag in eine andere Barangay, ein anderes Dorf auf Mindoro, der kleinen Nachbarinsel von Manila. Sowohl im Süden als auch im Norden. Nach einem Monat wiederholen sich die Einsatzorte. Wenn ich meine Patienteneinträge einen Monat später fortsetzen wollte, konnte ich bereits merken, wieviel ich mittlerweile wieder hinzugelernt hatte und wie sehr ich manchmal mein Vorgehen von noch einem Monat zuvor wieder anzweifelte. Als Pädiater freute ich mich auch über geriatrische, gynäkologische, chirurgische, HNO-mäßige und dermatologische Fortschritte, die ich rasch bemerken konnte.
Abschiedsfoto mit dem Team in Manila.
Alles in allem war es eine sehr schöne Zeit, die ich nicht missen möchte. Ich bin sehr gespannt, ob und was sie mit mir macht, wenn ich wieder in der Klinik in Deutschland bin. Ich bin sehr dankbar für viele Momente, die mir noch immer Gänsehaut bereiten, wenn ich nur an sie denke. So wie der 20-jährige junge Mann, der auf die Frage, wieviele nächtliche Hustenattacken er im letzten Monat hatte, bloß antworten konnte, er wisse es nicht, er habe nie zählen gelernt.
Herzliche Grüße von Dr. Özgur Dogan
Schreiben Sie einen Kommentar