Dr. Grundel

 

 

 

 

 

Für die Patienten der Ärzte für die Dritte Welt engagieren sich auch Zahnärztinnen und Zahnärzte. Der 34jährige Zahnmediziner und Oralchirurg Dr. Christoph Grundel berichtet von seinem Einsatz auf Mindanao, einer Insel der Philippinen. Seit 1985 arbeiten die Ärzte für die Dritte Welt vor Ort. Von 1985 bis Ende 2009 haben 1049 deutsche Ärztinnen und Ärzte 1447 unentgeltliche Einsätze in unserem Mindanao-Projekt gemacht.

„Asa ang sakit – Wo tut’s weh?“ frage ich. Zwei große braune Augen blicken mich an. Dann zeigt Mary-Joy, 10 Jahre alt, auf ihren faulen Backenzahn. „Diri, dort?“ frage ich. Mary-Joy zieht die Augenbrauen hoch. Das ist philippinisch und bedeutet ja. „Tooth 36, injection now“ sage ich und greife zur Spritze. Nach Mary-Joy kommen noch vier weitere Patienten an die Reihe. „Extraction time!“ ruft jetzt Lito, mein philippinischer Assistent. Ein Raunen geht durch die Zuschauermenge. „Sakit, das tut weh…“ zischen ein paar Kinder neben mir. Doch Mary-Joy sitzt tapfer auf unserem Zahnarztstuhl und hält still. Ihr bleibender Backenzahn hat gerade mal vier Jahre durchgehalten. Jetzt hat er ein großes Loch auf der Kaufläche, das man bei uns mit einer ausgedehnten Füllung behandeln könnte. Doch hier haben wir ja nicht mal Strom, geschweige denn einen funktionierenden Bohrer. Und so befindet sich der Zahn bald in meiner Zange.

 

 

 

 

 

Die Zuschauer gucken entsetzt, bevor der Zahn in den Pappkarton zu den anderen fällt. „Humana, fertig“ melde ich jetzt und die kleine Patientin bedankt sich artig mit „Salamat“.

Wir sind auf Mindanao, Philippinen, unterwegs in einer Rolling Clinic. Als Zahnarzt bin ich für sechs Wochen im Einsatz, das sind drei 10-Tagestouren mit ein paar Erholungstagen dazwischen. Zusammen mit dem humanmedizinischen Kollegen und unserem einheimischen Team aus Fahrer und zwei Krankenschwestern bereisen wir die kleinen Dörfer nach einem festen Plan, der in unserem Hospital in Cagayan de Oro ausgearbeitet wird. Örtliche Area Coordinators sorgen nach Absprache mit den Bürgermeistern oder den Ortsvorstehern dafür, dass die Bevölkerung rechtzeitig über unser Kommen informiert wird. Plakate und ein paar sms an die richtigen Leute helfen dabei. Wir fahren dann mit unserem Jeep die Schlaglochpisten bis in die abgelegenen Bergdörfer, biegen dann auf den Dorfplatz ein und bauen dort unser Instrumentarium auf. Abends übernachten wir in den unterschiedlichsten Unterkünften, meistens ist es eher ein improvisiertes Campieren halb im Freien, zum Teil in Privathäusern, zum Teil in örtlichen Gesundheitszentren, häufig auch in Rohbauten.

 

 

 

 

 

Essen und Wasser für uns selbst haben wir dabei. Je nach Lage des Dorfes beginnen wir unsere Arbeit morgens zwischen 8 und 9 Uhr. Über Mittag wird dann von den Dorfbewohnern ein Mittagessen bereitgestellt. Und am Nachmittag arbeiten wir so lange, bis alle Patienten versorgt sind. Es kommt vor, dass wir mit Stirnlampe bis in die Dunkelheit hinein arbeiten. Viele Patienten haben schließlich einen langen Weg auf sich genommen, um zu uns zu gelangen. Manche wandern zwei bis drei Stunden durch die Berge. Trotzdem müssen wir eine gewisse Auswahl treffen. So entfernen wir die Zähne nur seitenweise, natürlich die schmerzhaftesten zuerst. So ermöglichen wir allen wartenden Patienten einen Zugang zu unserer zahnmedizinischen Behandlung und sorgen andererseits dafür, dass wir nicht zu große Wundflächen schaffen. Sobald wir wieder abreisen, gibt praktisch keine Nachbehandlung. Daher müssen wir auch im Vorfeld versuchen, mögliche Risikopatienten herauszufiltern. Schwangere und Bluthochdruckpatienten werden nur im Einzelfall behandelt. Die Patienten bezahlen nichts für die Behandlung, lediglich eine symbolische Gebühr von fünf Pesos (circa acht Cent) verlangen wir für das Anlegen einer Patientenkarte. So können die Behandlungen schriftlich dokumentiert werden für die nachfolgenden deutschen Ärzte. Unser Ziel ist es, dadurch auch den Ärmsten eine zahnmedizinische Basisbehandlung zu ermöglichen. Absolut wichtig in einem Land, in dem die Entfernung eines einzelnen Zahnes beim privaten Zahnarzt mehr kostet, als eine Krankenschwester am Tag verdient.

 

 

 

 

Die Patientenzahlen schwanken stark. In manchen Dörfern sind es nur 20, in anderen 80 Patienten. Dabei kommen dann pro Tag Extraktionszahlen von durchschnittlich 80 Zähnen zusammen. Eine für Deutschland unglaubliche Zahl! Die Patienten leiden vor allem an Karies. Je näher das Dorf am Highway liegt, desto schlechter ist im Allgemeinen die Mundgesundheit. Nicht selten müssen wir schon bei 16 Jährigen die vier Schneidezähne im Oberkiefer entfernen, weil sie von Cola und Candy zerfressen sind. Ein weiteres Problem sind katastrophale Zahnfehlstellungen. Zum einen weil schon Milchzähne frühzeitig verloren gegangen sind und der Durchbruch der bleibenden Zähne völlig unregelmäßig ist, zum anderen weil hier keiner Geld für den Kieferorthopäden hat.

Unser Instrumentarium ist in eine große stabile Alubox eingepackt. Es besteht ausschließlich aus einem umfangreichen Set aus Hebeln und Zangen, das für circa 30 Extraktionen reicht. Danach muss mit dem Drucktopf über dem Campingkocher sterilisiert werden. Füllungen, Wurzel-kanalbehandlungen oder gar Zahnersatz sind nicht möglich, nur das Ziehen der Zähne. Wichtiger noch als unsere symptomatische Behandlung ist die Prävention. Daher gibt es in jedem Dorf eine Aufklärung über die Zähne und deren Pflege. Mit einem Modell wird die optimale Zahnpflege dokumentiert.

Die Arbeit als Zahnarzt ist hier so anders als zu Hause: Wir arbeiten meistens im Freien, häufig auf einer kleinen Bühne am Dorfplatz. Das sorgt für eine Menge neugieriger Zuschauer, die den Fortschritt der Behandlung genauestens kommentieren und diskutieren. Zwischen den Zuschauern tummeln sich meistens Hunde und pickende Hühner, auch Schweine haben wir gelegentlich gesichtet. Störender sind jedoch Hunderte von Fliegen, die gleichermaßen Zahnarzt wie Patient befallen. Auch die Hitze kann einem zu schaffen machen. Bei 33 Grad im Schatten und hoher Luftfeuchtigkeit wird es unter Handschuh und Mundschutz so richtig warm. Gegen Nachmittag sorgt dann oft ein tropischer Regenguss für etwas Abkühlung. Gut, wenn das Wellblech oder die Plane über einem dichthält…Lehmiger Boden, der Staub vorbeifahrender Autos oder dröhnende Karaokemaschinen im Nachbarhaus können erschwerend dazu kommen. Ein großer Stressfaktor ist jedoch die Psyche der Zuschauer. Passiert es, dass die ersten Patienten sehr ängstlich sind oder sich aufgrund akuter Entzündungen schlecht betäuben lassen, so spricht sich diese Nachricht schnell auf dem Dorfplatz herum und man muss damit rechnen, dass man von nun an häufig nachspritzen muss oder Patienten misstrauisch von der Warteliste wieder abspringen. Dabei sind wir doch zum Helfen gekommen! Der zahnmedizinische Behandlungsbedarf ist riesig. In den meisten Dörfern ist er so groß, dass wir nur die schlimmsten Probleme beheben können. Und das bedeutet hier das Ziehen der Zähne. Solange dies so ist, haben wir im Feld keine Möglichkeit und auch keine Zeit, Füllungen zu legen. Als langfristiges Ziel soll aber durch unsere Arbeit, vor allem auch in der Aufklärung, die Situation so verbessert werden, dass auch Zähne konservierend behandelt werden können. Und irgendwann mal sollen wir überflüssig sein. Doch bis dahin ist es noch ein langer Weg. Solange müssen wir in kleinen Schritten wenigstens 50 Patienten am Tag helfen, ihre schlimmsten Zahnschmerzen loszuwerden.

Ich hatte den Eindruck, dass das Verständnis für die Zähne und deren Pflege in den Gegenden besser ist, die wir regelmäßig anfahren. Außerdem konnten wir in den vergangenen sechs Wochen immerhin gut 1000 Patienten behandeln, noch lange nicht genug, aber ein Anfang. Es ist so wichtig, dass wir hier sind!“