Unser Partner in Chile war auch von dem Erdbeben betroffen. Hier ist ein Brief.

Am Ende unseres Lebens geht es nicht um die Frage: wie viel habe ich geliebt, wie viel wurde ich geliebt – sondern wie viel Liebe bin ich geworden?
Nach Willigis Jäger

Santiago, März 2010

Unsere lieben Freundinnen und Freunde:

Danke für eure Mitsorge und Liebe!

In wenigen Minuten kann die Welt plötzlich ganz anders aussehen – fast wie nach einem Bombeneinschlag. Alles Materielle ist nicht mehr wichtig – nur noch das Leben. Wichtige Termine, Arbeitspläne, Briefe, Mails fallen ins Nichts…

Ich hatte noch ein Totengebet in der Nacht gehabt und war noch nicht eingeschlafen, als das Beben am Samstag um 3:34 Uhr begann. Während die Erde bebte, das Haus hin und her schwankte, Schränke und Regale tanzten und vieles, was nicht niet- und nagelfest war, auf dem Boden landete, beteten wir mit Maruja im Schutz des Türrahmens.

Mit einem Mal war es stockdunkel, die Hunde waren anscheinend geschockt, so dass ihr Gebell erst gleichzeitig mit dem verzweifelten Aufschreien der Nachbarn einsetzte. Dann sofort die Sorge um die Nachbarn, unsere Freiwilligen und die Mitarbeiter. Alle Nachbarn waren dankbar, den Schrecken gut überstanden zu haben – die Sachschäden würden sich beheben lassen.

Nun versuchten wir mit Maruja unsere Freiwilligen und Mitarbeiter anzurufen. Aber weder per Telefon noch per Handy war es möglich. So fuhr ich los, um nach unseren Freiwilligen und Mitarbeitern zu sehen, so weit das Benzin reichte. Zum Glück war niemand von ihnen verletzt worden. Einige Strassen waren inzwischen gesperrt von umgekippten Strommasten oder eingefallenen Mauern, die geparkte Autos zerquetscht hatten. Die Leute halfen sich gegenseitig, viele richteten sich ein, auf der Strasse zu übernachten aus Angst vor den unsicheren Hauswänden und den Nachbeben, die noch anhalten.

Am Morgen ging es darum, dass alle Kranken und verwundeten Nachbarn in unserem Gesundheitszentrum versorgt werden konnten, obwohl Wasser und Strom ausfiel. Das Wasser kam wieder, aber der Strom fehlt immer noch, was den Dienst an den Kranken besonders nachts enorm behindert.

Unsere besondere Sorge gilt weiter den Mitarbeitern und ihren Familien. Den Sachschaden der Gebäude und Einrichtungen der Fundación Cristo Vive können wir nur grob einschätzen. Er liegt zwischen Euro 10 und Euro 15.000.

Im Vergleich zu den unbeschreiblichen Schäden, die vor allem Menschen in den Küstengebieten und südlich von Santiago erlitten haben, dürfen wir nicht klagen. In der Comunidad Cristo Vive in Quinta Bella werden wir morgen abend einen Solidaritätsakt organisieren, um Hilfsgüter zu sammeln. Eine Gruppe unserer Mitarbeiter aus dem Gesundheitszentrum hat sich mit Unterstützung der Kollegen beim Nationalen Hilfsdienst zum Einsatz bereit erklärt und wird uns im Katastrophengebiet vertreten.

Vielleicht habt ihr gehört von den Überfällen der Leute auf Supermärkte und Lebensmittellager – einige vandalistischer und gewalttätiger Art, so dass Polizei und Militär eingesetzt wurden. Das hat uns schwer betroffen, denn die meisten Menschen brauchten Essen und Hilfe, die nicht zu sehen war. Andererseits wollten die Supermärkte (auch in Santiago) nicht verkaufen, weil sie wegen fehlender Elektrizität die Käufe nicht registrieren konnten. Das hat bei den Betroffenen große Wut ausgelöst, die Kriminelle gleichzeitig ausgenützt haben, um ihr Handwerk zu treiben. Das sah wiederum aus wie ein soziales und moralisches Erdbeben.

In all den Wirren habe ich immer wieder das Glück, Wunderbares zu erleben. Als ich am Samstag nachmittag eineinhalb Stunde Schlange für Benzin hinter mir hatte, wollte ich nach unserem Mitarbeiter schauen, der unser Büro in der Berufsschule hütet. Von weitem sah ich schon einen riesigen Volksauflauf vor unserem Eingangstor und dachte an einen Unfall. Aber ich landete inmitten einer Menschenmasse, bewaffnet mit Eimern, Kanistern, Kochtöpfen, Plastikflaschen und anderen Behältern.

Der Pförtner Juan Carlos war eine Stunde zuvor von einem Nachbarn gefragt worden, ob wir Wasser hätten und hatte seine Flasche an unserem Tiefbrunnen gefüllt, 150 Meter vom Tor entfernt, und hinaus gereicht. Wenige Minuten später strömten unzählige Menschen herbei, um Wasser zu holen. Juan Carlos war seit dem Erdbeben ohne Kommunikation mit jemand von uns und traf alleine die Entscheidung, die Leute mit Wasser zu versorgen, ohne zu vermuten, was auf ihn zukommen würde. Er ließ die Leute in Zehnergruppen zum Wasserholen gehen, wahrscheinlich besorgt, das sich welche in unser Büro und die Werkstätten einschleichen und uns ausrauben könnten, denn durch das Erdbeben waren Fenster aufgesprungen.

Als ich ankam, warteten viele Leute schon eine Stunde in praller Sonnenhitze. Es ging nur langsam, zumal es nur einen Wasserhahn gab, da die Pumpe ohne Strom nicht funktioniert. Trotz des Risikos bat ich Juan Carlos, das Tor zu öffnen, damit die Menschen schneller zum Wasserhahn kämen und vor allem die Frauen mit Kindern sich in den Schatten setzen konnten. Ich habe mich fast geschämt, als die Leute dann mit ihren vollen Behältern an mir vorbeigingen und sich bedankten. Da immer mehr Menschen kamen, suchte ich nach einem Stromaggregat bei der Polizei und in der Umgebung – leider vergebens. Mit der Pumpe hätten wir 12 Wasserhähne öffnen können!

Irgendwann schaffte ich es, mit Fernando in Verbindung zu treten. Er kam dann auch gleich zu Hilfe. Juan Carlos erhielt Unterstützung von zwei Freunden, die von ihm gehört hatten. Schwieriger wurde die Situation, als die Nacht über uns herfiel. Aber da erschien am Himmel ein großes Licht: der (Fast-) Vollmond. Dieser begleitete Juan Carlos und seine freiwilligen Helfer beim Wasserverteilen bis ungefähr 23 Uhr. Hier herzlichen Dank an unseren Freund Erwin Teufel, der uns den Tiefbrunnen ermöglicht hat!

Ich habe Juan Carlos beglückwünscht, dass er diese starke, eigenverantwortliche Entscheidung für den Dienst für die Menschen in Not gewagt hat, ohne das Einverständnis seiner Vorgesetzten einholen zu können. Das ist in Chile nicht üblich (nicht selten verliert dabei jemand seinen Job). Ausserdem hätte er einen bequemeren Tag verbringen können!

Ein grosser Trost sind für uns eure Verbundenheit und solidarische Einfühlung. Wir danken für eure Geschwisterlichkeit in Gebeten, Briefen, Anrufen und tatkräftigem Beistand. Auch unser Freund, der deutsche Botschafter Michael Glotzbach, war sofort mit einem Hilfsangebot zur Stelle.

Wir werden uns mit all unseren Kräften einsetzen, um möglichst vielen vom Erdbeben betroffenen Menschen beizustehen. Gleichzeitig aber werden wir weiterhin arbeiten im Dienst an den Menschen in Armut und Elend, deren Leben wie ein dauerndes, materielles, soziales und spirituelles Erdbeben ist, damit sie Gottes Liebe spüren und Vertrauen ins Leben gewinnen…Bald werdet ihr wieder von mir hören!

Von Herzen umarmt euch

Karoline Mayer

PS: Unsere lieben Freunde, Spenden wie immer auf unser Konto, mit Stichwort „Erdbeben“:

„Cristo Vive Europa e.V.“ Karoline Mayer

Hallertauer Volksbank e.G. Casilla 2943

Manching Santiago de Chile

Kontonummer: 9670068 Tel: 0056-2-6255243

BLZ: 72191600 karoline@fundacioncristovive.cl

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