Wenn wir morgens in unsere Ambulanz in die Foreshore Road laufen, ist es für uns immer eine Art „Spannungsmoment“,  wenn wir um die Ecke biegen auf den Vorplatz unserer Ambulanz, wo morgens unsere Patienten auf uns warten. Wieviele sind es wohl heute? Müssen wir Patienten nach Hause schicken? Wie viele Schwerkranke liegen keuchend oder schwach in den Rikschas , mit denen sie von den Angehörigen herbeitransportiert wurden? Vor 2 Wochen, ein Tag vor der Durga Puja, hatten wir in unserem Team unseren persönlichen Rekord: 216 Patienten mit 3 Ärzten, niemand nach Hause geschickt! Nach der Puja 209 Patienten, niemand nach Hause geschickt. – Heute 191, niemand nach Hause geschickt. – Bei Zahlen über 150 Patienten spürt man die Spannung der Wartenden, wie sie die Reihen, in denen die Patienten aufgestellt sind, auflädt. Ein erfahrender Mitarbeiter sortiert die Patienten nach dem Zeitpunkt des morgendlichen Eintreffens und nach Kindern und Säuglingen, Frauen und Männern, und natürlich nach Schweregrad des Krankheitszustandes der Patienten. Es gibt also 3 Reihen: zuerst die Säuglinge mit ihren Müttern und fiebernde Kinder, dann Frauen und Männer.- Jeder dieser Patienten bekommt einen (unter sorfältiger Aufbewahrung befindlichen) Stempel bzw. Stempelaufdruck, der dem Patienten erlaubt, vom Arzt gesehen zu werden. Das „Stempel-System“ verhindert, dass Patienten, die nicht morgens zum Stempeln kommen, sondern erst später eintreffen, nicht drankommen. Es verhindert weitestgehend Gerangel und Ungerechtigkeiten in der Warteschlange, denn es gibt gerne Menschen, die für Geld einen Platz in der Schlange für jemand anderen freihalten, oder „mafiöse“ Strukturen, die mit Warteplätzen in der Schlange „handeln“. Wenn wie heute etwa 20o Leute warten, dann läuft das Stempeln weniger „friedvoll“ ab: hunderte von dünnen und dünnsten Ärmchen strecken sich mir entgegen. Junge und alte Haut, glatt, blass, dunkel, faltig, grau, mit Tätowierungen, Hautausschlägen, vital, schlaff… Meist geduldig erwartend, manchmal auch fordernd, hektisch, verzweifelt, ärgerlich… Der erfahrene Mitarbeiter nimmt jeden Arm in seine Hand und hält ihn mir zum Stempeln hin. Auf dem Unterarm zeichnet sich dann ein großer lila Stempelabdruck ab mit der Aufschrift: Foreshoreroad und Datum. Manchmal ist der Stempel breiter als das Ärmchen der Säuglinge…Ich gehe durch die Reihen, die Menschen drängeln sich zu mir, kommen mir nah, sehr nah, halten mir ihren Arm vor meine stempelnde Hand in der Hoffnung, ich könnte einen Moment nicht achtsam sein und die „vorgegebene“ Reihenfolge mit meinem Stempeln nicht einhalten. Lautes Rufen, auch mal Schreien begleitet meine Stempelaktion. Der Mitarbeiter hält mir stoisch Unterarm um Unterarm hin. Immer schneller zischt der Stempel zwischen Stempelkissen und Armen hin und her, alle 2-3 Patienten muss er mit Farbe gefüllt werden. Manch Patient nutzt einen noch nassen Stempelabdruck und drückt ihn in einem unbeobachteten Moment einem Freund oder Nachbarn, der nicht mehr drankam,auf… Ruhig murmelnd zählt der Mitarbeiter die Anzahl der bereits gestempelten Patienten. Mir ist schon ein wenig  schwindelig vom konzentrierten Schwingen des Stempels und von der großen Anzahl von Menschen und Unterarmen die mir so nahe kommen. 150 murmelt der Mitarbeiter, erstmal genug.-  Wenn wir Kollegen gut durchkommen mit den Patienten, werden später noch Patienten „nachgestempelt“. Der Mitarbeiter und ich laufen zurück zum Eingang der Ambulanz, lautes Rufen und Palavern, weitere Arme werden mir vorgehalten, ich werde an der Schulter berührt, soll weiterstempeln – ich gehe unbeirrt weiter, kein weiterer Stempel….Ich vermeide Blickkontakt mit den schimpfenden Patienten. Tröstlich ist, dass wer so laut schreit, nicht schwer krank sein kann und morgen wiederkommen kann!