Wolfgang Otter aus Nieder-Olm berichtet:
„Mein Projekteinsatz im vorigen Sommer umfasste insgesamt sechs Wochen und war in drei Abschnitte unterteilt. Die ersten zwei Wochen arbeitete ich im Outpatient Department des Com munity Health Care Center im Armen hospital von Cagayan de Oro, das eine enge Kooperation mit dem „College of Medicine“ der Xavier University pflegt. Ich lernte das ganze Spektrum an Erkrankungen in den Tropen kennen, das mir später in den Rolling Clinics in noch intensiverer Form in den weit abgelegenen Dörfern begegnete. Unser besonderes Augenmerk galt der Erkennung und Selektion von Tuber-kulosefällen.
Dem Department des Community Health Care Center in Cagayan de Oro angeschlossen sind ein Fortbildungszentrum für Mütter (Hygiene, Ernährung (Bedeutung des Stillens), Familienplanung), ein Hypertension- und Diabetes Club, das Tuberkulose-Center und eine Abteilung für Physikalische Therapie und Rehabilitation.
Als Anästhesist arbeitet man in Deutschland quasi wie ein „Schnittstellenmediziner“. Diese Erfahrungen helfen enorm, sich mit den örtlichen Gege-benheiten und der basismedizinischen Krankenversorgung in einem fremdem Land zurecht zu finden. Insbesondere in den Rolling Clinics (= mobile Krankenversorgung) ist Improvisation und das Arbeiten unter einfachsten, oft schwierigen Bedingungen gefragt. Die Amtssprache ist neben Filipino Englisch. Eine medizinische Fachkraft (Hebamme oder Fachkrankenschwester/health worker) fungiert gleichzeitig als Übersetzerin. Es durchlaufen täglich etwa 400 Patienten die Ambulanz in Cagayan de Oro. Die Patienten werden einem deutschen Langzeitarzt, drei philippinischen Kollegen und mir als Kurzzeitarzt zugeteilt. Einmal pro Woche praktiziert eine Zahnärztin im Hospital.
Das Spektrum der Erkrankungen umfasste die Kerngebiete der Inneren Medizin und der Pädiatrie: alle Formen von Atemwegserkrankungen wie cough and cold / fever“, Bronchitiden, Asthma; arterielle Hypertonie, Herzbeschwerden, Nierenerkrankungen Schild- drüsenfunktionsstörungen, Diabetes mellitus. Aber auch unklare Bauchbe-schwerden (Hunger als Ursache? Wür-mer?), Gastritis, gastroösophageale Refluxkrankheit, urinary tract infection and frequent urination, Geschlechtskrank- heiten, Appendizitis, Cholezystitis oder eine Ovarialzyste bei lower abdominal pain. Degenerative Erkrankungen der Gelenke werden ebenso geklagt, kön nen aber wegen der hohen Kosten nicht operativ behandelt werden. Frauen waschen täglich Unmengen Wäsche von Handund klagen entsprechend über Erschöpfung, Frustration, Rückenschmerzen, Schulter-Arm-Syndrom und Kopfschmerzen. Erkrankungen der Augen und Krank- heitsbilder aus dem Hals-Nase-Ohrenbereich sowie ein buntes Bild an Hauterkrankungen ergänzten die Vielfalt unserer täglichen basismedizinischen Arbeit.

Doch der Hauptanteil der Patienten sind Säuglinge und Kleinkinder. Neben den banalen Atemwegserkrankungen, sah ich auch Kinder mit klinisch manifester Pneumonie, die umgehend einer stationären Therapie zugeführt wurden. Ebenso verfuhren wir mit den unter- oder mangelernährten Kleinkindern, die uns schon mit den klinischen Zeichen einer schweren Dehydratation von den Eltern gebracht wurden. Häufig sind auch Gedeihstörungen durch Wurmbe fall oder andere Darmparasiten. Ersatz von Flüssigkeit und Elektrolyten und Ernährung mit proteinreicher Kost sind notwendige Ergänzungen, die vom Komitee bereitgestellt werden. Die dia- gnostischen Möglichkeiten während einer Rolling Clinic sind beschränkt. Im Zweifel erfolgt in allen diesen Fällen die Entscheidung für eine stationäre Einweisung großzügig.

Die Menschen nehmen oft lange Wege in Kauf und warten geduldig, um von den „German Doctors“ behandelt zu werden. Häufig kommen die Patienten aber erst, wenn die Erkrankung schon fortgeschritten ist. Dann sind die Behandlungsmöglichkeiten sehr begrenzt.

Hauptursache für viele Erkrankungen sind die meist schlechten hygienischen Verhältnisse und der Mangel an einwandfreiem Trinkwasser: Es ist der tägliche Mangel, unter dem diese Menschen leiden. Beengte Wohnverhältnisse in zugigen Hütten, mehrere Generationen unter einem Dach zusammen mit den Haustieren, offenes Feuer mit dauernder Rauchexposition, kein fließendes Wasser, keine sanitären Einrichtungen wie Latrinen, nachts Feuchtigkeit und Kälte, tagsüber oft unerträgliche Hitze, leisten den oben genannten Atemwegs-, Augen- und Infektionskrankheiten Vorschub.

Die zwei Wochen Tätigkeit im Armenhospital von Cagayan de Oro vergingen sehr schnell. Zwei Rolling Clinic- Touren von je zehn Tagen in die weit abgelegene Gebiete der Provinz Bukinon schlossen sich an. Die Menschen, die wir dort aufsuchten, gehören der indigenen Bevölkerung an und sind die unmittelbaren Nachfahren der Urein- wohner des Landes. Sie leben oft sehr zurückgezogen in verschiedenen Stam- mesgebieten in den Bergen.
Nach einem detailliert ausgearbeiteten Plan und nach Abstimmung mit den staatlichen Behörden, fährt ein vierköp- figes Team, bestehend in der Regel aus einem Fahrer und Spezialist für alles, medizinischem Fachpersonal (zwei Krankenschwestern) für Patientenauf- nahme, Apotheke und Übersetzung, einer Ärztin oder einem Arzt, in die ländlichen, von medizinischer Hilfe abgeschnittenen Regionen. Manchmal werden wir von einer Medizinstudentin oder einem Medizinstudenten im vier- ten Jahr unterstützt. Wenn vorhanden, wird auch ein Zahnarzt oder eine Zahnärztin eingesetzt.
Die Menschen vor Ort werden über das Kommen der RC durch Plakate und Mundpropaganda durch die Dorfältesten informiert und warten bereits auf uns. Oft wird die Sprechstunde unter freiem Himmel auf öffentlichen Plätzen, meist im Dorfmittelpunkt oder in der Kirche durchgeführt. Privatheit bei den Untersuchungen lässt sich nur in Ausnahmefällen herstellen. Je nach Bedürftigkeit werden die Dörfer alle drei bis sechs Wochen besucht.

Der Aufbau und der technische Ablauf einer Rolling Clinic sind grundsätzlich in allen Projekten standardisiert und ähnlich strukturiert. Es erleichtert die praktische Durchführung sehr und gewährleistet ein gewisses Maß an Qualität. Unvorhergesehene Ereignisse, wie Notfälle, plötzliche Unwetter können den Ablauf durcheinander bringen und dazu führen, dass unter Umständen ein Teil der Patienten nicht mehr behandelt werden kann. Kinder und Schwangere werden aber in jedem Fall noch untersucht. Es kann durchaus vorkommen, dass man nach heftigen Regenfällen den Zielort selbst per Allradantrieb nicht erreicht. Dann muss improvisiert wer- den. Ein Pferd oder Wasserbüffel als Transportmittel muss bei den Farmern organisiert werden, eventuell müssen noch Freiwillige als Träger gewonnen werden. Das medizinische Team stellt sich auf einen Fußmarsch ein.
Die basismedizinische Arbeit, mit meinen fünf Sinnen, mit Stethoskop, Otoskop und anderen Hilfsmitteln, ging nicht selten bis in die Dunkelheit. Gegen 18 Uhr wird es in den Tropen sehr schnell dunkel. Und wenn dann noch ein Stromausfall hinzukommt – falls die Region überhaupt schon elektrifiziert ist – muss man mit Stirnlampe, Taschen- lampe oder auch bei Kerzenlicht weiter- machen. Denn für den nächsten Tag steht schon wieder ein anderes Dorf auf unserem Plan.
Neben der medizinischen Hilfe besteht ein wichtiger Aspekt der Philosophie des Komitees darin, den Men- schen das unmittelbare gute Gefühl zu geben, dass sie nicht vergessen werden. Die Menschen, die wir in ihren weit abgelegenen Dörfern besuchen, lassen uns spüren, dass wir auch für sie sehr wichtig sind. Die Begegnung mit ihnen ist von gegenseitigem Respekt getragen. Die Menschen in ihrem alltäglichen Umfeld im Dorf zu behandeln, war für mich eine neue, sehr eindrucksvolle Erfahrung. Die freiwilligen Ärztinnen und Ärzte leisten einen unschätzbaren, wichtigen humanitären Beitrag der Sicherstellung einer basismedizinischen Versorgung und der Bekämpfung von Armut durch Hilfe vor Ort – in den Dörfern, mit den Menschen, das heißt vor allem: durch Hilfe zur Selbsthilfe.
Dass dies gelingen kann zeigt auch ein inzwischen gut funktionierendes Netz von örtlichen Gesundheitsposten an die sich die Menschen bei gesundheitlichen Problemen zunächst wenden können. Freiwillige Gesundheitshelferin- nen und Gesundheitshelfer, die sich eigens für diese Aufgaben weiterbilden ließen, informieren die Bevölkerung über ausgewogene Ernährung, Hygiene, Prävention von Erkrankungen, Säuglingspflege, die Bedeutung des Stillens, Impfungen und kümmern sich auch um Kranke, die ihre Behausung nicht mehr verlassen können. Schwangere können im Health Center unter der Mitwirkung einer Hebamme entbinden.
Das „Komitee Ärzte für die Dritte Welt“ bleibt auch nach mehr als zwanzig Jahren des humanitären Engage- ments in Nordmindanao ein verlässli- cher und notwendiger Partner der unterprivilegierten armen Bevölkerung.