Chirurgie in Serabu – Ein nächtlicher Notfall

Ein Bericht von Einsatzärztin Dr. Sabine Waldmann-Brun

Die Nacht ist dunkel, abgesehen von dem prachtvollen Sternenhimmel und dem Blinken der zahlreichen Glühwürmchen. Von der Männerstation hat die Nachtschwester gerufen, eine Neuaufnahme erbreche Blut. Also macht sich die Ärztin mit der Taschenlampe – von Glühwürmchen umschwirrt – auf den Weg durch das weitläufige Krankenhausgelände und hofft, keine Schlange auf dem steinigen Weg zu übersehen.
Auf der Station ist es ebenfalls weitgehend dunkel, die Nachtbeleuchtung bringt nicht mehr als ca. 10 Watt, der Vorrat an Solarenergie ist kostbar. Aber die vier Söhne, die ihren 96-jährigen Vater inzwischen im letzten Bett ganz hinten links im 14-Betten Saal verstaut haben, sind mit guten Taschenlampen ausgerüstet. Der neue Patient, ein vom Wetter gegerbter, weißbärtiger Mann von schlanker Statur, wird beleuchtet, damit er untersucht werden kann. Das Bett hat ca. 40 cm Höhe, von oben verfängt sich die nützliche Wolke des zusammengebundenen Moskitonetzes in den Haaren der Ärztin. Sechs Personen sind außer ihr noch um das Bett versammelt. Die Nachtschwester hat gute Vorarbeit geleistet und bereits die Vitalparameter erhoben. Der Blutdruck ist ein bisschen niedrig. Wo hat es geblutet? Aus der Nase? Ja, da sind noch Spuren. Der Bauch ist völlig unauffällig, nicht einmal druckschmerzhaft. Das spricht nicht für eine Magenblutung, freut sich die Ärztin. Aber der Patient habe reichlich Blut erbrochen, beteuern die Söhne. Um auf der sicheren Seite zu sein, denkt sich die Ärztin, wäre ein Blutbild und die Bestimmung der Blutgruppe sinnvoll. Viele der Patienten leiden an Blutarmut und haben abenteuerlich niedrige Hämoglobinwerte, da kann eine Blutung schon mal gefährlich werden. Der Bereitschaftsdienst des Labors ist telefonisch erreichbar, im Hintergrund erklingt flotte Musik. Er verspricht, sofort zu kommen. Der Patient selbst ist jetzt müde und möchte seine Ruhe haben. Es sei schon viel besser.
Der Laborant, festlich gekleidet im bodenlangen, bestickten Gewand in Mokkabraun, hat sich kurzzeitig von einem Fest verabschiedet und ist herbeigeeilt. Die Blutwerte sind für afrikanische Verhältnisse akzeptabel. Der Patient ist stabil, hat einen venösen Zugang und bedankt sich fürs Erste. Er möchte jetzt schlafen. Die Nachtschwester bekommt Besuch von ihrer Babysitterin, die etwas zu Essen vorbeibringt. Die Ärztin begibt sich, von Glühwürmchen umleuchtet, auf den Heimweg ins Doktorhaus.

OP Saal in Serabu
Die Patienten-Säle sind sehr viel größer wie wir es in Deutschland gewohnt sind.

Fatou
Das Mädchen ist gerade 15 Monate alt. Die Mutter bringt ihr Kind, weil es jammert und nicht mehr essen mag. Am linken Oberschenkel und rechten Knie ist eine Schwellung aufgefallen. Die Kinderärztin testet positiv auf Malaria, ordnet die nötigen Medikamente an und ein Antibiotikum. Was sagt die Chirurgin zu den Schwellungen? Diese erinnern sich an andere Schwellungen bei Kindern im Rahmen einer eitrigen Entzündung des Muskelgewebes, sie sieht im Ultraschall jedoch keine Flüssigkeitsansammlung und rät, unter engmaschiger Kontrolle zunächst die Wirkung der Medikamente abzuwarten. Wird das Kind unter Antibiotikum und Malariamitteln fieberfrei, würde sie auf eine Punktion der Schwellungen verzichten wollen. Dies ist tatsächlich am nächsten Tag der Fall, es scheint eine Besserung eingetreten zu sein. Noch am selben Tag sind die Eltern mit dem Kind verschwunden. Auf dem Markt? Nach Hause gegangen? Niemand weiß es. Die Medikamente können nicht gegeben werden. Die Kinderärztin ist ärgerlich, die Chirurgin wenig erfreut.
Am nächsten Tag ist die kleine Familie wieder da. Das Kind ist blass, hat hohes Fieber und ist in deutlich schlechterem Zustand als bei der Erstvorstellung. Die Schwellungen haben zugenommen. Sofort werden die Medikamente wiedergegeben, das Kind erhält Sauerstoff. Die Chirurgin schlägt eine sofortige Probepunktion im OP vor, dabei zeigt sich lediglich schlecht durchblutetes Muskelgewebe, aber kein Eiter. Das Kind ringt um sein Leben, die Eltern sind erschüttert. Ratlos schauen die dunklen Gesichter im Halbdunkel der Neugeborenenstation wo Fatou liegt, da nur hier auf Dauer Sauerstoff zu haben ist.
Die Kinderärztin wälzt Bücher. Selten gibt es eine virale Muskelentzündung ohne Eiter zum Beispiel durch Coxsackie-Viren, so in einem amerikanischen Lehrbuch beschrieben. Weitere Diagnostik ist nicht möglich, auch keine Therapie. Die Eltern währenddessen verstehen nicht, dass im OP lediglich zur Probe punktiert wurde, sie sehen nur einen Verband. Wurde da etwas herausgenommen? Wieso geht es jetzt dem Kind so schlecht? Vorher sei es doch noch besser gewesen? Was haben die Ärzte mit dem Kind gemacht?
Das Kind stirbt. Die Kinderärztin zeigt den Eltern das unversehrte Kind ohne Verbände. Sie müssen mit eigenen Augen sehen, dass im OP nichts gemacht wurde, das den Tod verursacht hat. Hätte die Geschichte anders ausgehen können? Warum sind die Eltern nach einem Behandlungstag bereits gegangen? Wäre die Malaria durchgehend behandelt worden, hätten dann bessere Abwehrkräfte bestanden? Es geht nicht um Schuld. Es gibt nicht auf alles eine Antwort. Die Eltern nehmen das tote Kind mit nach Hause.

Der Buschkuhmann
Unruhe auf der Männerstation, ein Grüppchen Menschen beugt sich über ein Bett. Ein alter Mann ist gebracht worden, der versucht hatte, eine Buschkuh bei den Hörnern zu packen. Diese stieß ihm daraufhin die Hörner in den Bauch. Von außen sind nur zwei kleine Stichkanäle zu sehen. Aber der Mann ist nicht mehr bei Bewusstsein, der Blutdruck nicht messbar. Die Chirurgin legt schnellstens einen i.v. Zugang und unter Infusion im Schuß wird der Patient in den OP gefahren, wo bereits die Narkoseärztin mit ihrem Auszubildenden und die OP-Schwestern das Nötigste vorbereiten. Während der Operation zeigt sich, dass der Darm an zwei Stellen verletzt ist, Stuhl läuft in die Bauchhöhle, ein Gefäß ist eingerissen, von der hinteren Bauchhöhle her breitet sich gedeckt ein großer Bluterguss aus. Während der Operation wird die Blutung im vorderen Bauchraum gestillt, der Darm geflickt, alle Organe auf Verletzung kontrolliert, die Bauchhöhle gespült. Der von hinten sich ausbreitende Bluterguss nimmt so stark zu, dass kein Verschluss der Bauchhöhle mittels Naht möglich ist. Die Chirurgin hofft, dass bei steigendem Druck im Retroperitoneum die Blutung zum Stillstand kommt und entschließt sich für einen temporären halboffenen Verschluss mithilfe eines feuchten Bauchtuchs und Plastiküberdeckung. Hierzu muss ein großes Kunststoffnetz herhalten, das sich unter den immer wieder eintreffenden Materialspenden findet. Die Narkoseärztin hat inzwischen zwei Blutkonserven gegeben und will erst einmal auf weitere Gaben verzichten. Blut ist kostbar. Die Angehörigen werden informiert, dass es fraglich ist, ob der Patient die Nacht überleben wird. Sie sind nicht überrascht. Eine der beiden Ehefrauen weint.
Am nächsten Morgen ist der Patient wach und bittet um etwas zu trinken. Er erhält, nachdem zwei Angehörige gespendet haben, eine weitere Transfusion. Der Blutdruck ist passabel. Das ganze Hospital spricht von dem Buschkuhmann. Verschiedene Geschichten über das Ereignis kursieren. Die einen sagen, das Tier sei von außen in den Garten eingedrungen und habe den Mann bedrängt. Eine andere Fraktion kritisiert, in diesem Alter müsse man eben nicht mehr eine Kuh bei den Hörnern packen, der Alte habe sich überschätzt. Am Fenster drücken sich Kinder die Nasen platt, um einen Blick auf den Mann zu erhaschen. Schwestern von anderen Stationen kommen ganz zufällig vorbei und laufen mal eben über die Station an dem Bett vorbei, wo der Patient liegt. Alle wollen einen Blick auf den Mann werfen, der von einer Kuh so schwer verletzt wurde, dass man den Bauch nicht mehr zunähen konnte.
Zwei Tage später, nachdem der Patient Stuhlgang hatte, kann der Darm wieder in der Bauchhöhle untergebracht werden. Die Chirurgin hofft, dass die Naht, auf der noch reichlich Spannung lastet, auch hält.
Der alte Mann erholt sich langsam. Die Naht nässt für geraume Zeit, dann schließen sich langsam die noch feuchten Stellen. Die Chirurgin ist zufrieden. Der Patient erhält reichlich Besuch. Ein Enkel wird mit einem roten Plastikfächer zum Kühlungsfächeln am Bett positioniert.
Dann, in einer Nacht, ein Notruf. Der Stationspfleger bittet die Chirurgin, sofort zu kommen. Der Alte sei nicht mehr ansprechbar. Er habe schon am Nachmittag gebeten, zum Sterben nach Hause gebracht zu werden. Die Chirurgin untersucht den Bauch und findet außer zu vielen Falten nichts Bedrohliches. Anscheinend hat der alte Mann nicht genug getrunken. Und tatsächlich, nach einem Liter Infusionslösung ist der Buschkuhmann wieder präsent und will auch nicht mehr sterben. Was war passiert? Der Patient hatte ein Abführmittel erhalten und daraufhin viermal Stuhlgang gehabt. Der dadurch bedingte Flüssigkeitsverlust hatte ihn kurzzeitig außer Gefecht gesetzt. Ab jetzt geht es wieder bergauf, ein Friseur zur Verschönerung der Frisur wird von der Familie organisiert, und fünf Wochen nach dem Zusammenstoß mit der Buschkuh kann der Patient nach Hause entlassen werden.

2014_02_Operationssaal

Wochenende mit Sonnenschein
Freitagnachmittag. Die Visiten sind beendet, es stehen keine größeren Operationen mehr an. Das Outpatient-Department ist geschlossen, die Clinical Health Officers (CHOs) verabschieden sich und brechen zu ihren Wochenendausflüge auf. Die Frauenärztin plant, aus dem alten Brot und den noch vorhandenen Eiern für alle arme Ritter zu backen. Aber um 17:00 Uhr kommt ein Anruf: Eine mit dem fünften Kind schwangere Mutter hat sich mit Abgang von grünem Fruchtwasser vorgestellt. Schnell in den OP zum Kaiserschnitt! Da die CHOs auf Reisen sind, assistiert die Chirurgin, nachdem sie vorher noch schnell auf der Männerstation das einzige Absauggerät geholt hat. Es muss dort gerade eine Thoraxdrainage bei einem 15-Jährigen unterstützen, wenn es nicht im OP gebraucht wird.
Die Kinderärztin nimmt das Neugeborene im OP in Empfang. Beim Zurückbringen des Absauggeräts fällt der Chirurgin der zunehmend schlechte Zustand eines mit heftigem Husten und Leistenbruch am Vormittag aufgenommenen Patienten auf. Die gesamte Lunge klingt wie am Morgen feucht, nun aber hat er auch noch starke Bauchschmerzen. Die Chirurgin vermutet eine Darmeinklemmung durch den beim Husten jetzt noch höheren Druck auf den Leistenbruch. Die Laboruntersuchungen liegen noch nicht vollständig vor, aber sie beschließt, den Patient lieber sofort zu operieren als einen abgestorbenen Darmanteil zu riskieren und trägt das Absauggerät wieder zurück in den OP. Die Frauenärztin assistiert. Die immerhin schon geschlagenen Eier für die armen Ritter müssen noch ein wenig in der Küche warten. Im OP zeigt sich eine umfangreiche Darmeinklemmung mit beginnender Durchblutungsstörung, die jedoch nach Befreiung des Darms wieder rückläufig ist. Um 23:30 Uhr wird der Patient zurück auf die Station gebracht, zusammen mit dem Absauggerät. Der 15-Jährige mit der Thoraxdrainage blinzelt nur müde, er kennt jetzt schon das Hin und Her mit der Saugvorrichtung.
Die armen Ritter, inzwischen von der Kinderärztin gebraten, warten auf dem Wohnzimmertisch. Aber die Köchin selbst ist gerade unterwegs zu einem Kindernotfall. Gerade überlegt sich die Chirurgin, ob sie sich allein an den Tisch setzen soll. Wo sind eigentlich die anderen alle? Da ruft die Frauenärztin an. Es hat sich eine Drittgebärende mit Geburtsstillstand seit vielen Stunden eingefunden. Das Team wird zusammen telefoniert, das Absauggerät geholt und die armen Ritter mit einem Teller abgedeckt. Jetzt ist keine Zeit in Ruhe zu essen. Um 2:15 Uhr sind alle fertig, das Baby gut angekommen und die Absaugung wieder angeschlossen auf Station. Die armen Ritter aber würden um diese Zeit eher schwer im Magen liegen und werden im Kühlschrank verstaut.
Samstagmorgen, 7:30 Uhr, die Sonne scheint. Alle sind müde, aber es hilft nichts: Die Visite steht an, zahlreiche Verbände müssen gewechselt und Neuaufnahmen gemacht werden, eine Wundversorgung wartet im OP. Aber später dann, denkt sich die Chirurgin, ab 12:00 Uhr, kann ja vielleicht das Wochenende beginnen. Ein armer Ritter zum Frühstück stärkt jetzt ganz gut und hält vermutlich länger vor als das vorhandene Weißbrot. Um 11:00 Uhr stellen sich zwei Patienten vor. Die Chirurgin wollte sich gerade für die Wundversorgungs-OP fertig machen. Der Erste, mit stolzen 24 Lipomen am linken Unterarm, die seit mehr als zehn Jahren bestehen, wird gebeten, am Montag wiederzukommen. Er ist aus dem Dorf und hat es nicht weit. Der Zweite ist in schlechtem Zustand, erbricht, in der linken Leiste zeigt sich eine starke druckschmerzhafte Schwellung. Also wieder ein eingeklemmter Leistenbruch, der sofort versorgt werden muss. Mäßige Begeisterung im OP. Auch die Schwestern sind noch müde, vor allem die Assistierende hat zurzeit tagelang rund um die Uhr Bereitschaftsdienst, weil ihre Kollegin zu einer Beerdigung gefahren ist. Aber erstmal liegt der Patient zur Wundversorgung auf dem Tisch. Danach eilt die Chirurgin zum Doktorhaus, um in Windeseile noch einen armen Ritter zu essen und reichlich Wasser zu trinken. Immerhin ist es jetzt draußen 32° heiß und nur im OP gibt es eine Klimaanlage. Der eingeklemmte Leistenbruch erweist sich als ein größeres Projekt: ein Darmanteil ist schwarz nach zu langer Einklemmzeit, so muss ein Stück entfernt und die verbleibenden Enden in vorsichtiger Kleinarbeit wieder zusammengesetzt werden. Währenddessen beatmet die internistische Kollegin im provisorischen Aufwachraum mit dem Ambubeutel den Patienten nach der Wundversorgung, der einen Narkoseüberhang hat und noch nicht selbstständig atmen kann.
Nachdem auch diese Leiste fertig versorgt ist, bringt die Chirurgin das Saugsystem zurück auf Station. Der Patient mit Husten und gestern eingeklemmtem Bruch ist verschwunden. Was ist passiert? Die Laboruntersuchung ergab eine offene Tuberkulose, er ist in ein Isolierzimmer verlegt worden. Die Chirurgin verabschiedet sich für eine Pause. Das Bedürfnis, eine Runde zu schlafen ist größer als das, einen letzten armen Ritter zu essen. Aber etwas zu trinken braucht es vorher noch. Auf dem Weg zum Doktorhaus noch ein Blick auf die heute frisch aufgeblühten, satt gelben Blüten am Wegrand. Von der Dorfkneipe her schwebt beschwingte Musik herüber. Die Sonne neigt sich rund und rot zum Untergehen, die Insekten summen. Noch ist es heiß. Ab ins Bett.

2014_02_Sonnenuntergang