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Sierra Leone: Angst vor einem neuen Bürgerkrieg

Kaja Momanyi arbeitet für die German Doctors in der Geschäftsstelle in Bonn und ist zuständig für die Betreuung der BMZ-Projekte. Anfang August war sie in Sierra Leone, um den Projektstart eines neuen Projekts zu begleiten, als die teils gewalttätigen Demonstrationen begannen. Schnell haben wir in der Geschäftsstelle entschieden, dass sie den Besuch abbrechen und nach Hause fliegen soll.

Kaja Momanyi in Sierra Leone

Kaja, wir sind alle sehr froh, dass Du unbeschadet und ohne Zwischen­fälle nach Hause reisen konntest. Hier in Deutschland wurde wenig über die Lage in Sierra Leone berichtet. Warum sind die Menschen dort auf die Straße gegangen?

Kaja Momanyi: „Inhaltlich ging es um die steigende Inflation in dem Land; Preise für Benzin und Lebensmittel haben sich teilweise verdoppelt, was dazu führt, dass es eine enorme Heraus­forderung für viele Menschen in Sierra Leone ist, ihre Lebens­haltungskosten zu bestreiten. Zu Beginn wurde anonym dazu aufgerufen, nicht mehr zur Arbeit zu erscheinen und damit sämtliche Geschäfte geschlossen zu halten. Das wurde von vielen Menschen am Montag und Dienstag befolgt – zumindest in manchen Teilen des Landes. Zu dem Zeitpunkt war noch alles friedlich. Dienstag­abend kamen dann die ersten Gerüchte, dass sich die Menschen am Mittwoch auf den Straßen versammeln wollen. Diese Form der Demonstration ist in Sierra Leone, ähnlich wie in Deutschland, nur dann erlaubt, wenn die Demonstration vorher offiziell ange­meldet wird. Das ist in diesem Fall nicht geschehen, weshalb die Regierung es später als `terroristischen Akt` bezeichnete. Die Menschen hatten es vor allem auf staatliche Einrichtungen und Personen abgesehen, es wurden u.a. Polizeistationen und öffentliche Busse angezündet. Außerdem wurden ca. sieben Polizistinnen und Polizisten von der aufgebrachten Menge zu Tode geprügelt. Als Reaktion versuchte die Polizei mit Waffen­gewalt die Menschen­massen in den Griff zu bekommen. Es sind viele Zivilisten ums Leben gekommen; Es gab auch Todesopfer in Makeni – dem Ort, an dem ich mich zu dem Zeitpunkt aufhielt.“

Hast Du eine Erklärung für die Gewalt­eskalation?

Kaja Momanyi: Die Bevölkerung macht die Regierung für die steigenden Preise seit Covid und dem Krieg in der Ukraine verant­wortlich, bzw. wirft der Regierung vor, nicht genug zu tun, um die Bevölkerung in dieser schweren Zeit zu unter­stützen. Daher waren staatliche Stellen das Ziel und die Menschen forderten den Rücktritt des Präsidenten. Fehlende Bildung spielt leider eine große Rolle: Denn offensichtlich sahen die Protest­ierenden keinen anderen Weg, als Gewalt anzuwenden, um die Regierung dazu zu bekommen, ihre Bedarfe ernst zu nehmen.“

Wie hast Du von den Protesten erfahren? Wurdet ihr gewarnt?

Kaja Momanyi: „Da der Protest nicht offiziell angemeldet war, gab es nur Gerüchte. Ich selbst habe davon von den nationalen Mitarbeitenden erfahren, die ihre Infos aus den Sozialen Medien, von Familien und Freunden bekommen haben. Gewarnt wurden wir nicht.“

In welchen Städten haben die Proteste statt­gefunden und welche Gruppen haben sich beteiligt?

Kaja Momanyi: „Der Hotspot war in Freetown, aber auch in ein paar anderen Regionen in Sierra Leone gab es Proteste, u.a. in Makeni. Es waren wohl vor allem jugend­liche Männer, die den Bürgerkrieg, der 2000 endete, nicht oder kaum mitbekommen haben und in ihrem Leben eher wenig Zugang zu Bildung hatten.“

Wie war die Stimmung im Land?

Kaja Momanyi: „Angespannt und zwiege­spalten. Ich war umgeben von Sierra Leonerinnen und Sierra Leonern, die in der privilegierten Situation waren, viel Bildung genossen zu haben und viel Berufs­erfahrung haben. Außerdem haben die meisten von ihnen den Bürger­krieg sehr bewusst miterlebt und sind traumati­siert von den schrecklichen Erfahrungen. Sie hatten kein Verständnis dafür, dass Jugendliche den Frieden des Landes aufs Spiel setzen. Die Angst vor einem weiteren Bürgerkrieg stieg von Tag zu Tag. Im nächsten Jahr stehen in Sierra Leone Wahlen an. Daher war bei den Personen, von denen ich umgeben war, kein Verständnis dafür da, warum man jetzt einen Bürger­krieg riskiert, anstatt ein paar Monate später (hoffentlich) friedlich einen neuen Präsidenten zu wählen, wenn man mit dem derzeitigen nicht zufrieden ist.“

Haben die Proteste Auswirkungen auf unsere Projekt­arbeit und wenn ja, welche?

Kaja Momanyi: „In den ersten Tagen mussten sämtliche Aktivitäten abgesagt werden oder konnten nur unter sehr strengen Sicherheits­regelungen stattfinden. Eine deutsche Einsatzärztin, die wie ich zu der Zeit vor Ort war, ist ebenfalls vorzeitig nach Hause gereist. Unsere Partner­organisation Commit and Act hat zusätzliches Sicherheits­personal angestellt, da man Angst davor hatte, dass in ihr Büro und in das Schutz­haus für Mädchen einge­brochen werden könnte. Das Gelände, auf dem sich beide Häuser befinden, liegt im Zentrum von Makeni, wo mit weiteren Protesten zu rechnen war. Die Mädchen aus dem Schutz­haus wurden in umliegende Dörfer gebracht und die Mitarbeitenden wurden dazu angehalten zu Hause zu bleiben – ihre Sicherheit hat oberste Priorität.“

Wo warst Du während der Proteste?

Kaja Momanyi: „Ich war mit unserer Länder­repräsentantin Fanta Daboh und unserem Fahrer im Ärztehaus der German Doctors in Makeni. Dort habe ich mich sehr sicher gefühlt, da das Haus ein bisschen außerhalb des Stadt­zentrums liegt, umgeben ist von einer hohen Mauer und nachts ein Sicherheits­dienst die Straße bewacht.“

Wie hast Du und die anderen Mitarbeitenden sich gefühlt? Manche Situation war ja durchaus bedrohlich und sogar gefährlich.

Kaja Momanyi: „Es hat mich sehr bewegt zu sehen, wie retrauma­tisierend die Situation für die Mitarbeitenden ist. Sie haben schlimme Erfahrungen im Bürger­krieg gemacht, die dadurch wieder hoch­kamen. So fingen die Mitarbeitenden bereits an, Notfall­pläne zu schmieden, um sich und ihre Familien außer Landes zu bringen, sollte wieder ein Bürger­krieg ausbrechen. Für mich war vor allem die Fahrt zum Flughafen sehr angespannt, nachdem entschieden war, dass ich am gleichen Tag noch ausreisen soll. Unsere Länder­repräsentantin hatte vorher alle größeren Dörfer abtelefoniert, die wir passieren mussten, um sicherzugehen, dass dort keine Aufstände sind. Die Rückmeldung war, dass alles friedlich wäre. Uns war aber bewusst, dass sich die Lage jederzeit ändern kann. Auf der Fahrt war ich durchgehend im Kontakt mit meinen Kolleginnen im Büro in Bonn, was mich sehr beruhigt hat. Sie hätten im Notfall zwar erstmal nichts machen können, hätten aber unsere Kontakte in Sierra Leone alarmieren können, um zu helfen.“

Wie geht es den Mitar­beitenden vor Ort jetzt?

Kaja Momanyi: „Die Lage scheint sich etwas beruhigt zu haben. Es gab weiterhin immer mal wieder Aufstände, bei denen vereinzelt auch Menschen ums Leben gekommen sind. Die Gewalt ist aber nicht zu vergleichen mit dem ersten Tag der Ausschreitungen. Das Militär scheint die Lage einiger­maßen unter Kontrolle zu haben und die Ausgangs­sperre, die später nur noch nachts galt, wurde aufge­hoben. Die Angst vor einem weiteren Bürger­krieg scheint weiterhin da zu sein, jedoch nicht mehr ganz so akut wie in den ersten Tagen.“

Geht die Projekt­arbeit inzwischen weiter?

Kaja Momanyi: „Die Mitar­beitenden versuchen ihre Arbeit wieder­aufzunehmen, beispiels­weise wurde eine Auftakt­veranstaltung für das BMZ-Projekt in einem Dorf mit großem Erfolg umgesetzt. Das Team war zwischen­zeitlich sehr frustriert aufgrund der Form der Proteste. Bei einem Workshop kamen wir aber darauf, wie wichtig das Projekt ist: U.a. bekommen die Beteiligten dabei eine Methode an die Hand, mit der sie auf ihre Bedarfe aufmerksam machen können, ohne Gewalt. Dies motiviert alle Teammitglieder gerade unheimlich. Die Mitarbeitenden informieren sich aber weiterhin rund um die Uhr über die Sicherheits­lage und setzen Aktivitäten nur dann um, wenn sie wissen, dass es sicher ist.“

Danke für das Gespräch!