Neues aus den Projekten
Landeskoordinator Audi: „Wir lassen unsere Patienten nicht im Stich“
George Audi ist seit vielen Jahren Projektmanager in unserer Slum-Ambulanz Baraka und zugleich der Landeskoordinator für Kenia. Allein in Mathare Valley besteht sein Team aus 86 kenianischen Mitarbeitenden. Im Interview berichtet er uns von den Herausforderungen des vergangenen Jahres, aktuellen Problemen und den Sorgen der Patienten.
Was waren Ihrer Meinung nach die größten Probleme für unsere Patienten in Mathare Valley im Jahr 2020? Was sind aktuell die größten Sorgen?
George Audi: Sie sorgen sich an erster Stelle um Essen, bzw. wie sie ihren Hunger stillen sollen. Danach folgt Arbeitslosigkeit und schlechte Gesundheitsversorgung. Letztere spielt vor allem für chronisch Kranke eine entscheidende Rolle. Danach erst folgt die Sorge wegen des Corona-Virus. An den Ängsten hat sich meiner Wahrnehmung nach nichts geändert. Es sind noch immer die gleichen. Zu all ihren Sorgen haben wir im Baraka Health Center den Menschen verlässlich eine Antwort gegeben: Wir haben die Kranken weiter behandelt und den chronisch Kranken eine größere Medikamentenration ausgehändigt, damit sie nicht so oft kommen mussten. Außerdem haben wir unser Ernährungsprogramm ausgeweitet und Essenspakete an Unterernährte und besonders gefährdete Menschen verteilt.
Die Anzahl an Patienten in unserer Ambulanz sank im Frühjahr zunächst und stieg dann am Ende des Jahres seit Oktober 2020 wieder an. Warum?
George Audi: Zurzeit ist der Patientenandrang sehr hoch. Die Angst vor einem Arztbesuch ist offensichtlich überwunden. In unserer Slum-Ambulanz sind seit Januar wieder deutsche Kurzzeitärztinnen und -ärzte vor Ort. Das sind Kinderärzte, Chirurgen und Allgemeinmediziner. Das hilft sehr. Der Streik an den staatlichen Krankenhäusern trug zu den hohen Zahlen bei. Wir, im Baraka Health Center, bieten unseren Patienten eine zuverlässige medizinische Versorgung – das wissen die Menschen, und daher kommen sie.
Wie war die Lage in unserem Ernährungsprogramm 2020 aufgrund der Pandemie?
George Audi: An unserem Ernährungsprogramm zeigten sich die Auswirkungen der Pandemie am deutlichsten: Menschen haben ihre Jobs verloren und wussten in der Folge nicht mehr, wie sie ihre Familien ernähren sollten. Kinder saßen aufgrund der Schulschließungen zuhause. Da so die Schulspeisungen wegfielen, mussten die Eltern eine Mahlzeit mehr pro Tag und Kind finanzieren. Wir haben unsere Essensausgabe fast verdreifacht. Dabei sind wir über die Grenzen unserer Möglichkeiten hinausgewachsen, dank des tollen Teams, das wir vor Ort haben! Eigentlich können wir “nur” 500 Essen pro Tag ausgeben. In den Monaten Juni bis Dezember 2020 haben wir im Durchschnitt jeden Tag zwischen 580 und 715 Menschen mit einer warmen Mahlzeit versorgt. Aufgrund der extrem großen Nachfrage haben wir zusätzlich die Ausgabe von Nahrungsmittelpaketen eingeführt. Die Anzahl der in Not geratenen Menschen war einfach zu groß. Und wir wollten und wollen unsere Patienten und Patientinnen nicht im Stich lassen.
Wie sieht unsere Lebensmittelhilfe aktuell aus?
George Audi: Wir helfen aktuell noch immer zwischen 500 bis 600 Menschen täglich mit frisch zubereitetem Essen. Aber wir möchten die Zahlen langsam reduzieren, was keine leichte Aufgabe ist. Es ist uns sehr wichtig, kein Abhängigkeitssyndrom zu schaffen. Unser strategischer Plan für die Zukunft ist eine Rückbesinnung auf unseren bewährten Ansatz: Es sollen wieder Kochkurse für Mütter und Schulungen für chronisch Kranke stattfinden. Dort lernen die Menschen, wie man gesund und kostengünstig kochen kann. Wir möchten den Menschen das Fischen beibringen, statt sie mit Fisch zu versorgen. Aber in der großen Not muss es dann manchmal doch noch der Fisch sein, der gegeben wird. Bis heute haben wir 2.501 Essenspakete in Mathare verteilt. Zusätzlich dazu haben wir an unserem neuen Projektstandort in Athi River 533 Nahrungsmittelpakete ausgegeben und im Slum Korogocho waren es 1.310. Diese Verteilungen sollen nun enden – es sei denn, es passiert etwas Unvorhergesehenes.
Wir haben gehört, dass die Anzahl an schwangeren Teenagern während der Pandemie stark angestiegen ist. Können Sie das bestätigen?
George Audi: Ja, die Zahlen sind stark gestiegen. Dies ist sehr alarmierend. Allein in Nairobi gibt es fast 5.000 schwangere Mädchen, davon sind 500 zwischen zehn und 14 Jahren alt.
Kommen manche von ihnen auch in unsere Slum-Ambulanz und bieten wir ihnen Hilfe an?
George Audi: Ja, wir unterstützen und behandeln Teenager, die schwanger sind. Zurzeit haben wir 16 Mädchen, die zu Schwangerschaftsvorsorgeuntersuchungen kommen. Andere gehen dafür in die staatlichen Krankenhäuser, wieder andere versäumen diese Untersuchungen. Wir bieten ihnen außerdem Aktivitäten zur psychosozialen Unterstützung an und versuchen mit Hilfe lokaler Partner, sie auch in wirtschaftlicher Weise zu stärken. Bei allen Maßnahmen werden die Eltern der Schwangeren miteinbezogen, um sicherzugehen, dass diese die Teenager und deren Babys später unterstützen.
Warum sind die Zahlen so hoch?
George Audi: Die Gründe dafür sind sehr vielschichtig. In Kenia gibt es keine Sexualaufklärung an den Schulen. Viele Mädchen wissen nicht, wie man ungewollte Schwangerschaften verhindert. Auch ist es für Minderjährige nicht ganz einfach, an Verhütungsmittel zu kommen. Und häufig spielt sexuelle Gewalt eine Rolle, wobei so gut wie nie die Täter angezeigt werden.
Seit Januar 2021 können wir wieder unsere deutschen Kurzzeitärztinnen und -ärzte in die afrikanischen Projekte entsenden. Was ist der Vorteil, wenn sie vor Ort sind?
George Audi: Die deutschen Medizinerinnen und Mediziner sind gut ausgebildete Fachärzte. Das Patientenmanagement funktioniert besser mit ihnen. Und sie teilen ihr Fachwissen mit dem einheimischen Personal. Das hat sehr gefehlt. Ebenso ihre Erfahrung und ihre Anregungen, die sie einbringen. Das Teamwork und die Stimmung im Team ist besser. Das letzte Jahr stellte eine enorme Arbeitsbelastung für das einheimische Team dar. Die Zeit war sehr belastend. Nun ist es gut, dass endlich Erleichterung durch die tatkräftige Unterstützung von vier deutschen Ärztinnen und Ärzten gegeben ist.
Hat die Pandemie Ihren Blick auf die Welt verändert?
George Audi: Ja. Niemand hat sich auf eine Pandemie dieses Ausmaßes vorbereitet. Aber sie hat gezeigt, wie schnell sich Dinge, die wir für selbstverständlich halten, ändern können.