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Anruf bei Tabletten-Einnahme

Anruf bei Tabletten-Einnahme

In der Tuberkulose-Bekämpfung beschreitet der indische Staat völlig neue Wege: Die Abkehr von der überwachten Einnahme hin zu mehr Eigenverantwortung der vielen Erkrankten. German Doctors-Langzeitarzt Tobias Vogt in Kalkutta beschreibt das Konzept recht hoffnungsvoll:

Tuberkulose (TB) ist die tödlichste Infektionskrankheit der Welt. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation sterben jedes Jahr rund 1,3 Millionen Menschen an ihr; 74.000 davon sind Kinder. Indien ist in besonderem Maße von der Infektionskrankheit betroffen, und dort vor allem unsere Zielgruppe, die Ärmsten der Armen in den Slums der Metropolen. Die drangvolle Enge und die katastrophalen hygienischen Bedingungen sind der ideale Nährboden für die Ausbreitung des TB-verursachenden Bakteriums. Zur vollständigen Gesundung müssen Patienten einen Mix aus verschiedenen Medikamenten über viele Monate hin sehr konsequent einnehmen. Bei punktueller Therapie oder gar bei einem Abbruch droht die Entstehung der gefürchteten resistenten und multiresistenten Keime. Also setzte der indische Staat bisher auf die Einnahme aller Tabletten unter der direkten Aufsicht von Krankenschwestern in öffentlichen TB-Zentren – auch DOT-Prinzip (Directly Observed Treatment) genannt. Fünfzehn Jahre lang war die Einnahme-Kontrolle der konzeptuelle Grundpfeiler des indischen TB-Kontrollprogramms.

Nun hat der indische Staat ein neues System eingeführt, wonach die Patienten einen Medikamentenvorrat für einen Monat mit nach Hause nehmen dürfen und täglich durch einen Telefonanruf bestätigen müssen, dass sie die Tabletten am jeweiligen Tag eingenommen haben. Die Telefonnummer erscheint morgens beim Öffnen des Blisters; der Anruf ist selbstverständlich kostenfrei. Wenn ein Patient bis mittags um 12 Uhr die Nummer nicht anruft, erhält er eine SMS, die ihn an die Medikamenteneinnahme erinnert. Zur gleichen Zeit werden die Mitarbeiter des lokalen Krankenhauses über den säumigen Patienten informiert. Natürlich ebenfalls per SMS. Die Verantwortlichen beim nationalen Kontrollprogramm Indiens gehen davon aus, dass die allermeisten Erkrankten, die diese bestätigenden Telefonanrufe tätigen, auch tatsächlich ihre Medikamente schlucken.

Wesentliche Vorteile der Neuerung: Die Stadtteil-TB-Zentren sind entlastet, vor allem aber die Patienten selbst! Sie müssen nun nicht mehr täglich die Zentren aufsuchen und haben entsprechend mehr Zeit für den Broterwerb und ggf. die Kinderbetreuung. Die Änderung vermeidet auch die von den meisten Patienten gefürchtete Kenntnisnahme der gesamten Siedlung von ihrer Erkrankung. Viele TB-Patienten leiden unter Stigmatisierung und Ausgrenzung, sobald sie in einem öffentlichen TB-Zentrum gesehen werden.

Ebenfalls neu ist die Zusammenfassung der vier wichtigen, von den meisten Patienten gleichzeitig einzunehmenden TB-Medikamente in einer einzigen Tablette. Die wegfallende direkte Beobachtung der Medikamenteneinnahme würde ja die theoretische Möglichkeit eröffnen, dass Patienten zuhause nur einzelne der vier erforderlichen Präparate einnehmen – mutmaßlich die, denen sie die wenigsten Nebenwirkungen zuschreiben. Da nun alle Wirkstoffe in einer Tablette zusammengefasst sind, fällt dieses Risiko weg.

Das neue Konzept wird die TB leider nicht besiegen, aber es scheint mir dennoch ein richtiger Schritt bei ihrer Bekämpfung zu sein. Die Erkrankung wird wohl erst dann deutlich zurückgehen, wenn sich die ökonomische Situation des Landes bessert und vor allem die Lebenssituation der vielen, vielen Armen in der riesigen Republik.